Tod und Sterben sind wichtige – und vor allem unumgängliche – Puzzlestücke unseres Lebens. Es ist lohnend, sich immer wieder mit diesem Thema auseinanderzusetzen, denn nur, wenn wir Tod und Sterben in ihrer Tiefgründigkeit und der gesamten damit verbundenen Angst vor dem Unbekannten erforscht und verstanden haben, können wir uns auch ganz auf die Tiefe des Lebens einlassen.
Eine bewusste Beschäftigung mit Tod und Sterben berührt ein altes und starkes Tabu in unseren abendländischen Kulturen und in uns selbst. Viele von uns leben weit entfernt von dieser Thematik und vermeiden häufig eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit diesem ganz natürlichen Wandlungsprozess. In eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema gehen wir meist erst dann, wenn wir persönlich davon betroffen sind. Entweder, weil im näheren Umfeld ein schwerwiegender Krankheitsverlauf mit möglicher Todesfolge uns dazu auffordert oder weil wir selbst krankheitsbedingt oder aufgrund unseres Alterns damit konfrontiert werden.
Und manche kommen auch damit in Berührung, wenn sie beruflich – als Arzt/Ärztin, in der Sterbebegleitung, als Pfarrer*in, Bestatter*in usw. – damit zu tun haben. Meine persönliche Beschäftigung mit dem Thema Sterben wirft in meinem Umfeld immer wieder die Frage auf, was mich denn an diesem Thema so fasziniere. Schon in jungen Jahren habe ich eine tiefe Liebe für die Natur verspürt. Dort habe ich gespielt und mich gern aufgehalten, bin auf Erkundungsreisen gegangen und habe die Natur oftmals gerne in all ihren Erscheinungsformen beobachtet und miterlebt. Dabei konnte ich natürliche Sterbeprozesse von Tieren und von Pflanzen beobachten – und bin alljährlich in jeden Herbst und Winter eingetaucht.
Während dieser Zeit habe ich den Prozess des Loslassens als selbstverständlich empfunden und habe mich auf alle damit einhergehenden Gefühle eingelassen. Ich konnte mich dem gar nicht verwehren. Ich liebte es ebenfalls, vor allem in der Abenddämmerung, Friedhöfe zu besuchen. Meine Eltern hatten viele Angehörige und mein Vater ging sehr oft zu den Gräbern seiner Vorfahren, um diese zu pflegen. Ich habe in dieser Zeit zwischen den Ruhestätten getanzt, gespielt oder einfach nur gesessen. Was mich besonders daran faszinierte, war diese – wie ich sie erlebte – außergewöhnliche Stille und dieser besondere Frieden, der von diesen Orten ausgeht.
Den „Kampf“ verloren
Im Jahre 2010 bin ich, ausgelöst durch eine Ausbildung bei Rosina Sonnenschmidt, in die Sterbebegleitung hineingewachsen. In dieser Schulung konnte ich erstmals meine Nähe zu diesem Thema ganz annehmen. Ich habe für mich erkannt, dass ich mich erst dann, wenn ich mein eigenes menschliches Vergehen als natürlichen Bestandteil meines Lebens voll integriere, dem Leben tief bejahend hingeben kann. Was genau geschieht, wenn wir sterben? Können wir wirklich wissen und davon erzählen, was geschieht? In unserer Kultur gehen wir beim Sterben von einem körperlichen Verfall aus, einem stetigen Nachlassen physiologischer Vorgänge. In der Schulmedizin wird das Sterben einem Versagen gleichgesetzt. Es wird davon gesprochen, dass „ein Mensch „es nicht geschafft hat“, „die Medizin versagt hat“ und der Mensch seiner Endlichkeit entgegenblickt. Zu sterben bedeutet zuweilen auch, schwach geworden zu sein und den Kampf um das eigene Leben nicht gewonnen zu haben. Diese Sichtweise kann sehr einschränkend sein und uns nicht zuletzt auch daran hindern, uns ganz auf uns und unser Leben einzulassen.
Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, wie beispielsweise im Hospiz, haben oftmals ein subtiles Gefühl dafür, dass mit dem Tod noch nicht alles vorbei ist. Der Sterbeprozess selbst wird als weitaus mehr als das Abstreifen einer physischen Hülle wahrgenommen. Für einen Menschen, der im Sterben liegt, findet oftmals eine intensive Beschäftigung mit seinem persönlichen Lebensweg statt. Fragen werden im Inneren bewegt, wie die, ob man alles gelebt hat, was einem wirklich wichtig war. Und auch, ob Ungeklärtes im zwischenmenschlichen Bereich endgültig bereinigt wurde, um wirklich friedlich loslassen zu können. Als ob das Abstreifen der physischen Hülle unter Umständen nicht schon dramatisch genug wäre, fragt man sich manchmal, wie ein Mensch all diesen Herausforderungen im Ausnahmezustand eines Sterbeprozesses gerecht wird.
Den Wandlungen vertrauen
Je nach Sterbebegleitung kann dieser Prozess entweder als unangenehm oder als erlösend empfunden werden. Im tibetischen Totenbuch Bardo Thödol wird darüber berichtet, dass eine wache und einfühlsame Begleitung in dieser Zeit von enormer Bedeutung für den Sterbenden und seine Bewusstsseinsentwicklung sein kann. Das Bardo Thödol ist eine der wenigen Schriften, die auf die Erlebnisse der menschlichen Seele beim Sterben, im Nach-Tod-Zustand und bei der Wiedergeburt eingehen, und kann als eine Anweisung begriffen werden, um Sterbende und Verstorbene mithilfe kraftvoller Texte sowie einer klaren Meditationspraxis ein erlösendes Licht erkennen zu lassen. Das Bardo erzählt davon, dass die Kunst des bewussten Sterbens jedem offensteht und bereits zu Lebzeiten durch das Zerreißen illusorischer Schleier, Überwindung von Dualitäten sowie von Materie eingeübt werden kann. Um auch nur ansatzweise begreifen zu können, was sich in einem Menschen, der im Sterben liegt, körperlich und seelisch vollzieht, benötigen wir vor allem eines: eigene tiefgreifende Lebenserfahrungen sowie die Bereitschaft, sich immer wieder auf das eigene Leben mit all seinen Wandlungen ganz einzulassen. Die Augen und das Herz vor nichts zu verschließen.
Es geht darum, das Leben in all seinen Erscheinungsformen immer wieder ganz in sich aufzunehmen und darin einzutauchen. Und auch in Zeiten schmerzlicher Loslösungsprozesse diesen Entwicklungsphasen voll zu vertrauen. Schmerzliche Prozesse können beispielsweise herausfordernde Krankheitsphasen, eine Trennung, ein Umzug, ein Jobverlust und Ähnliches sein. Besonders in diesen Momenten wirken starke Wandlungskräfte in uns. Rückblickend ist oftmals zu spüren, dass Krisenphasen dieser Art uns bewusster, aufmerksamer und sensibler haben werden lassen – für uns selbst und für unsere Umwelt. Erfahrungsgemäß geht dies auch mit einem offeneren, umfassenderen Blick auf unser Leben und auf unsere Existenz einher.
An dieser Stelle möchte ich ein Gedicht teilen, das vielen sicherlich vertraut ist und das mich berührt und bestärkt, immer wieder vertrauensvoll in das Mysterium des Lebens einzutauchen, um eines Tages wieder zu sterben.
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um
Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stufe um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz,
Nimm Abschied und gesunde!
Hermann Hesse
Man könnte meinen, im ganzen Leben in all seiner Dynamik – bewusst wahrgenommen – läge bereits seit der Geburt ein tiefer Ruf verborgen, der uns das große Loslassen üben lässt. Ein inneres Drängen, uns auf einen Augenblick vorzubereiten, den wir weder kontrollieren noch mit seinem konkreten Ablauf bewusst wählen können. Wir können uns nur ganz einlassen – um dann wieder loszulassen. Während der Begleitung von Sterbenden durfte ich immer wieder von einem ganz besonderen Nektar kosten, den ich heute als Hingabe bezeichnen würde. Dabei spielt die Kommunikation zwischen mir und dem Sterbenden eine besondere Rolle, die eigenen Regeln folgt und im Verlauf des Prozesses empathisch und immer immer stärker nonverbal verläuft.
Die besondere Aufgabe liegt darin, dem sterbenden Menschen eine ruhige und geborgene Umgebung zu ermöglichen, innerlich ganz präsent zu sein, alles aufmerksam wahrzunehmen, um die Bedürfnisse eines Sterbenden aufzuspüren und in Worte und gegebenenfalls in Taten umzuwandeln. Man wird zu einem Bindeglied, einem Vermittler zwischen der Person, die im Sterben liegt, und den nahen Angehörigen, die zu begreifen versuchen, was da geschieht und wie es ihrem geliebten Angehörigen ergeht. Und man wird zu einer Mittlerin zwischen dem Materiellen, das es abzustreifen gilt, und einem bis dahin unbekannten Reich, in das wir alle wieder einkehren, wenn unsere Reise in diesem Leben beendet ist. Auch die Atemübertragung spielt eine besondere Rolle in der Sterbebegleitung, insbesondere in den Phasen, in denen sich das sterbende Lebewesen starken inneren Gefühlen ausgesetzt fühlt. In diesen Augenblicken bleibt uns in der Begleitung nur eines übrig: diesem Menschen die Hand zu halten, mit ihm zu atmen und mit aufrichtigem Mitgefühl im Herzen seinen seelischen Pilgerweg zu begleiten.
Den Eintritt in das Neue bewusst erleben
Sterbende zu begleiten heißt auch, sie darin zu unterstützen, all die schönen Augenblicke des vergangenen Lebens im Bewusstsein auftauchen zu lassen und sie aus tiefstem Herzen zu würdigen. In der Sterbebegleitung sehe ich meine Rolle darin, gemeinsam mit den Sterbenden auf das große Tor zu blicken und innerlich ganz für sie da zu sein, damit der Eintritt in das Neue, Ungewisse – und zuweilen vielleicht auch Zauberhafte – wirklich bewusst erlebt werden kann. Eine meiner intensivsten Erfahrungen in der Sterbebegleitung war die Begleitung meines Großvaters. Mein Opa war zeit seines Lebens ein sehr arbeitstüchtiger und die Struktur und Sicherheit liebender Mensch. Er hatte auch den Tod meiner Großmutter nie wirklich verdauen können, da ihn der Verlust nicht nur tief getroffen hat, sondern tiefe Ängste über die Unkontrollierbarkeit des Lebens und eine innere Auseinandersetzung mit seinem Weltbild auslöste. Zu Lebzeiten sprach er sehr wenig darüber, doch es war ihm anzumerken, dass er seine Frau im Innen wie im Außen suchte und dabei um Antworten rang.
Ich habe die Phasen seines Sterbeprozesses so intensiv wie möglich betreut. Auch zuletzt verbrachte ich viel Zeit mit ihm, als er bereits bettlägerig war. Er konnte kaum noch sprechen. Täglich saß ich neben ihm und hielt seine Hand, erzählte ihm Geschichten aus seinem Leben, las ihm vor, blickte immer wieder in seine Augen und wurde still mit ihm. Und atmete mit ihm, bis er sich beruhigte. Manchmal hob er eine Hand, zeigte nach oben und hauchte folgendes Wort: Licht. Manchmal bäumte er sich auf, begann dann wieder zu zittern und blickte mich fragend an. Der Atem war dann meist flach, der Mund und die Lippen trocken. Ich habe, so wie ich es gelernt habe, mit einem in Kräuterwasser getränkten Wattepad seine Lippen und den Mundboden befeuchtet. Unsere Kommunikation basierte nur noch auf Körpersprache, Gefühl und Wahrnehmung. Ich nickte ihm zu und sagte: „Dort wo du hingehst ist es sicher für dich.“ Dies wiederholte ich, bis sein Atem wieder ruhig und tief wurde. Manchmal hauchte er: Mutti (so nannte er in den letzten Jahren seine Frau, meine Großmutter). Und ich nickte wieder. „Du gehst dort hin, wo deine Frau ist.“ Und wieder beruhigte sich sein Atem.
Ich blieb meist so lange, bis eine tiefe Ruhe in ihm einkehrte. Ich wusste, dass er während seiner gesamten Lebenszeit unter Verlustängsten litt, da er sehr früh entspechende Erfahrungen gemacht hatte. Von seinem Bett aufzustehen und wieder nach Hause zu gehen, forderte mich darum täglich heraus. Und so sorgte ich dafür, innerlich in einer bewussten Verbundenheit mit ihm zu bleiben und weiter mit ihm „zu sein“, egal wo ich war. Ich hatte dieses tiefe Vertrauen, dass jenseits unseres alltäglichen Bewusstseins eine verbindende Kraft in uns wirkt, die uns trägt und sich nicht in Formen der Trennung bewegt.
Eine andere intensive Erfahrung für mich war, beim letzten Atemzug einer Sterbenden dabei zu sein. An einem Abend im Februar 2011 beschloss ich, statt nach „Dienstschluss“ nach Hause zu gehen, die im Sterben Liegende noch weiter zu betreuen. Mein Gefühl sagte mir, dass es vielleicht der letzte gemeinsame Abend sein könnte. Nur eine Kerze und eine Nachttischlampe leuchteten. Im Raum wurde es auf eine geheimnisvolle Weise immer stiller. Ich beobachtete bei der im Sterben Liegenden ein tieferes Atmen, und dann wurde es plötzlich ganz still. Ihr Atem blieb aus. Dieser Moment war überwältigend. In diesem Augenblick hatte ich das klare Gefühl, in eine tiefe Begegnung mit einer besonderen Kraft eingetaucht zu sein. Noch in derselben Nacht schrieb ich zum Dank ein Gedicht an die Verstorbene, an das Erleben, an diesen Moment. Ich schenkte ihr noch für einige Zeit „danach“ meine volle Aufmerksamkeit, so gut ich konnte. Auch diese Erfahrung hat mein Leben sehr geprägt.
Sterben: die letzten Lebensgeschenke eines Zyklus empfangen
Laut Erzählungen meiner Mutter (nachdem ich wieder nach Berlin zurückgereist war), befand sich mein Großvater in seinen letzten Tagen in einem tiefen, ruhigen Zustand. Ich betreute den Prozess von hier aus weiter, empfahl in Absprache mit einer begleitenden Ärztin Mittel, die in der Sterbebegleitung eine wichtige Rolle spielen. Meine Mutter brachte ihm fast täglich seine Lieblingsblumen und wandte empfohlene Übungen an. Mein Opa hat, anders als er sein Leben begann (eben mit schmerzlichen Verlusterlebnissen) seinen Abschied ganz anders und neu erfahren. Nahe Angehörige waren vor Ort und – zufällig – ein Pfarrer, der ihm leise Klaviermusik auflegte und seine Hand hielt, als er schlussendlich friedlich einschlief.
Seine Wandlung unter diesem neuen Stern zu betrachten hat mir noch einmal gezeigt, wie wertvoll Sterbebegleitung sein kann und dass jeder Mensch einen würdevollen Abschied verdient hat. Natürlich können wir den Zeitpunkt und den Verlauf dieses Prozesses nicht wirklich steuern, und jeder von uns hat seine eigene Art, Abschied zu nehmen. Doch wir können uns bereits zu Lebzeiten innerlich dafür öffnen und vertrauen, dass bis zum Schluss dann noch tiefgreifende Veränderungen möglich sind und wir die letzten Geschenke unseres Daseins in diesem Zyklus empfangen können.
Voll und ganz leben
Menschen auf dem Weg in das große Unbekannte zu begleiten, lässt mich immer wieder demütig werden. Es lässt mich spüren, wie kostbar solch ein menschliches Leben ist. Dass ich nie genau wissen kann, wie viel Zeit mir hier bleibt und ebensowenig, wie ich aus alledem austreten werde. Was es mich jedoch immer wieder lehrt, ist, dass es sich lohnt, mit allem, was ich bin, voll und ganz zu leben, nahezu kompromisslos und mit ganzem Herzen. Es lädt mich ein, mich immer wieder auf alle Höhen und Tiefen meines eigenen Lebens einzulassen und sie auch wieder loszulassen, wenn sie vorüber sind. Der große Augenblick des Abschieds wird eines Tages auch für mich kommen. Ich hoffe insgeheim, es wird ein gnädiger und bewusster Gang in etwas Neues, Unbekanntes – und vielleicht habe ich das Glück, dann einen besonderen Menschen an meiner Seite zu haben. Einen, der meine Hand hält und mir zur Seite steht, um Lichter in mir anzuzünden. Jemand, der mich darin unterstützt, demütig und voller Dankbarkeit auf mein Leben zurückzublicken, um mich ganz verabschieden zu können – und voller Vertrauen eine neue, mir unbekannte Reise anzutreten.
Von Lena Elisa Grabowski
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