Von Lena Grabowski
Unser Körper ist in Alarmbereitschaft
Wird eine Wahrnehmung – aus dem Außen oder dem Inneren des Körpers – vom Zentralnervensystem als Gefahr für das System, den Organismus, interpretiert, wird eben dieser Organismus in erhöhte Alarm- und Handlungsbereitschaft versetzt. Dies wirkt sich insbesondere auf Muskulatur, Atmung und Kreislauf aus, aber auch die Informationsverarbeitung im Gehirn selbst verändert sich.
Erleben wir uns bedroht, werden Hormone (u.a. Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol) als Botenstoffe ausgeschüttet und der auf Aktivität gerichtete Teil unseres vegetativen Nervensystems (nicht dem Willen unterliegenden „Sympathikus“) wird aktiviert, während sein Gegenspieler (Parasympathikus), der auf Ruhe, Regeneration und Reproduktion gerichtet ist, derweilen gehemmt wird. Auf diese Aktivierung hin beginnt der Organismus, verstärkt Energie zu produzieren, um kurzfristig leistungsfähiger zu sein. Gleichzeitig wird der Blutfluss umverteilt und alle Funktionen, die in diesem Augenblick nicht lebensnotwendig sind, werden hierdurch gehemmt.
Über lange Zeit waren „Fressfeinde“ die Hauptbedrohung von Lebewesen. Daher reagieren wir noch heute reflexhaft so wie vor Urzeiten, um unser Leben zu retten. Das hieß: Fliehen, Kämpfen oder: sich Tot stellen (der „Totstellreflex“ soll beim Angreifer die ebenfalls reflexhafte Beißhemmung auslösen). Höhere Hirnfunktionen werden dazu nicht gebraucht und stehen dann auch nicht zur Verfügung. Es entsteht ein „Tunnelblick“ auf den Baum, den es zu erreichen, oder den Knüppel, den es zu fassen gilt. Es ist unwichtig zu wissen, wie viele Streifen beispielsweise der Säbelzahntiger hat, der einen verfolgt. Die Wahrnehmung richtet sich vor allem auf den Überlebensmodus.
Stress und das Überleben
Ganz allgemein gilt für jegliche Herausforderung: Je bedrohlicher / stressender die Situation erlebt wird, umso weniger ist mit intelligenten, kreativen oder ethischen Lösungen zu rechnen. Denn so wie sich das Gehirn während der Evolution sozusagen vom Rückenmark über Stammhirn und Mittelhirn zum Großhirn hin entwickelt hat, so fallen bei Stress in umgekehrter Reihenfolge die höheren, differenzierten Funktionen immer mehr zu Gunsten der reflexhaften und schnelleren, unbewussten Reaktionsweisen aus. Erst wenn man die Anforderung überlebt hat und sich beruhigen konnte, kommen die zum Zeitpunkt des Stressmomentes nicht verfügbaren Fähigkeiten wieder.
Diese unwillkürlich im Körper ablaufenden Prozesse führen teilweise zu spürbaren Veränderungen in der Körperwahrnehmung – die einen oftmals selbst beunruhigen (weil sie auf diese Notfallsituationen hinweisen). In der Folge genügen Ängste, es könne wieder geschehen, um den Reaktionszyklus auszulösen. Später reicht dann die Angst vor der Angst. Aus (fast) „Nichts“ ist nun „etwas Bedrohliches“ geworden. Die Alarmreaktion selbst ist (kurzzeitig) völlig unschädlich, ja erwünscht, um besonders leistungsfähig zu sein und besondere Anforderungen zu meistern. Dies ist analog zur Evolutionsgeschichte betrachtet eine sinnvolle Einrichtung in unserem System (gewesen).
Kurzfristig werden Energieträger im Blut erhöht: schnell verfügbar und energiereich: Zucker (Glukose) und Fett (insbes. Triglyceride und Cholesterin). Hierbei handelt es sich um Rohstoffe, aus denen in den Zellen Energie erzeugt wird. Das erklärt das Bedürfnis nach Süßem oder Fettigem (z.B. Schokolade, Chips) in oder nach solchen „stressigen“ Situationen. Die Bauchspeicheldrüse schüttet verstärkt das Hormon Insulin aus, um Glukose in die Zellen zu transportieren. Das kann, wenn es sehr lange anhält, zur Erschöpfung der Drüsenzellen (und schlussendlich sogar zu Diabetes führen). Die Atmung wird verstärkt, um mehr Sauerstoff in das innere „Stoffwechselfeuer“ zu führen: so werden die Brennstoffe zu verfügbarer Energie umgewandelt.
Wir erleben das als vermehrtes Luft holen, als „Lufthunger“ oder auch bekannt als Gefühl von „Atemnot“. Die schnelle regelmässige Atmung kann zu Symptomen der Hyperventilation (gr.-lat. = übermäßige Steigerung der Atmung) führen; mit Schwindel- und/oder Kribbelgefühlen in Körperteilen, evtl. sogar Verkrampfungen in ängstlich angespannten Muskelgruppengen.
Beschleunigung von Puls und Erhöhung des Blutdrucks
Die Durchblutung wird verbessert und durch Blutflusslenkung die Energie dorthin gebracht, wo sie nun dringend gebraucht wird: in die Muskulatur. Diese benötigen wir ja, um den Körper auf eine Reaktion vorzubereiten. Gespürt werden Herzrasen, Pulsschlag im Hals, Druckgefühl im Kopf und Unruhezustände.
Vermehrte Muskeldurchblutung
Mehr Kraft, Ausdauer und verbesserte Beweglichkeit erhöhen die Chancen bei Flucht oder Angriff. Bewusst erlebt werden Gespanntheit und unbändige Kraft, jedoch auch Zittern, das bekannte Gefühl von „weichen Knien“, den sogenannten „Kloß“ im Hals wie weitere Anspannungen. In deren Folge kommt es zu kalten Fingern / Füßen.
Erst durch vermehrte Muskelarbeit (und dessen „Energieverbrauch“) kommt es zur Körpererwärmung, die gefühlt als Hitzewallungen, Erröten der Haut wahrgenommen wird.
Vermehrte Hautdurchblutung und vermehrtes Schwitzen
Um den Organismus zu kühlen und die Körpertemperatur konstant zu halten, wird die in den Muskeln produzierte Wärme an die Oberfläche geleitet und die beim Schwitzen entstehende Verdunstungskälte genutzt. Wahrgenommen werden kaltschweißige Haut, frieren und Gänsehaut.
Verminderte Blutzufuhr zu den inneren Organen
Ziel: Die Drosselung aller im Alarmzustand in dem Moment als unnötig empfundene Stoffwechselvorgänge. Manche spüren das als Übelkeit oder als merkwürdige Gefühle in der Magengegend, z.T. führt die Aufregung aber auch zu Durchfall und vermehrtem Harndrang.
Verminderte Blutzufuhr zum Großhirn
Die relativ langsame Reizverarbeitung im Großhirn wird zurückgedrängt; eine genaue Bestimmung der Gefahr ist akut oftmals nicht nötig; schematische Entscheidungsmuster niederer Hirnregionen werden also aufgerufen. Die (Sicherungs-) Reaktionen erfolgen damit rascher, problemorientierter – wenn auch mit größeren Fehlerquoten.
Erlebbar sind Schreck, Lampenfieber, Angst, manchmal Panikgefühle. Folgen können auch Schwindelgefühle, Konzentrationsstörungen, „Blackout“ in Prüfungen sein. In Extremfällen kann es zu Bewusstseinsverlust, Dissoziation (teilweiser oder völliger Verlust der normalen Integration von Erinnerungen, Empfindungen, Körperkontrolle sowie des Identitätsbewusst-seins), Stupor (lat. = völlige geistige und körperliche Regungslosigkeit), und schlimmstenfalls sogar Schocktod kommen.
Verminderte Schmerzwahrnehmung
Kurzfristig ist das ein Schutz, da der Moment, in dem die Aufmerksamkeit beim Schmerz wäre, eine entscheidende Lücke in der Abwehr einer Gefahr sein könnte. Langfristig wäre es gefährlich, ein wichtiges Meldesystem von Gefahren und innerem Ungleichgewicht außer Kraft zu setzen
Was ist ein Stressauslöser?
Ein Stressauslöser kann alles sein, was der Organismus für bedeutsam und insbesondere bedrohlich hält wie z.B. schädigende Umwelteinflüsse wie beispielsweise Lärm, schrille Schreie (Alarmsignale), Kälteeinwirkung, Hitze, Strahlen, toxische Substanzen, Chemikalien. Auch Hemmnisse auf dem Weg zur Bedürfnisbefriedigung können als Stress auslösend empfunden werden. Bestimmte mentale Einstellungen, Befürchtungen, Erwartungshaltungen, Motivationen (lat. = Summe der Beweggründe), die zu inneren oder äußeren Konflikten führen, können Stress darstellen. Seelische und/oder körperliche Belastungen können vom Organismus als Stress erlebt werden, Unter- unter Überforderungen, zu wenig oder zuviel Verantwortung. Schichtarbeit, ungesunde Rhythmen, Leistungsdruck, fehlende Gestaltungsmöglichkeiten, Formen von Reizüberflutung, Arbeitslosigkeit oder sehr hohe Arbeitsbelastung. Erfahrungen wie Mobbing, Ausgrenzung oder soziale Isolation stellen starke Stressauslöser dar. Als auch Symptome wie Schlafstörungen, Sorgen und Grübeleien, Erfahrungen von Armut, Nahrungsmangel – jedoch auch Überfluss und Überangebote, Krankheiten und Schmerzen zählen zu Stressauslösern. Sehr starke Stressfaktoren sind Verlusterfahrungen wie der Tod eines nahen Angehörigen, ein erzwungener Umzug, Heimatverlust, Erfahrungen von Grenzüberschreitungen, Gewalt oder andere lebensgeschichtlich belastende Ereignisse. Nicht zuletzt können auch irrationale Gefahren wie Spinnen, Insekten, Mäuse, Plätze Auslösereize für Stresserleben sein.
Es genügt – so die Stressforschung – allein die Vorstellung von einem Stressreiz und auch die Erwartung an einen Stressreiz, um eine innere Reaktionskette in Bewegung zu setzen.
Der Psychosomatiker Thure von Uexküll beschreibt das als Funktionskreise bzw Feedback-Schleifen (Theorie der Humanmedizin, 1998). Diese Feedback-Schleifen (Rückkoppelungsmechanismen) finden wir in allen Systemen – von der Zelle über den Körper bis zum Ökosystem. Sie helfen dabei, die Homöostase (= Streben nach innerem Gleichgewicht in einem offenen System) aufrecht zu erhalten. Dies geschieht selbstreguliert, d.h. als sich selbst organisierender Prozess, der allerdings durch die Struktur des Systems, seine Form, körperlichen Voraussetzungen und Bedingungen festgelegt ist. Weitere Merkmale sind: „…die allen gemeinsame Endlichkeit und eine durchlässige, Austausch mit der Umwelt zulassende Grenze, die die Zugehörigkeit, ein Innen und Außen, definiert.“ (ebd.)
Ob ein System gut funktioniert ist demnach eine Frage der Balance, des Ausgleichs. Im Leben gilt es folglich, immer das für sich und die Situation richtige Maß zu finden: z.B. ein gesundes Maß zwischen Neugier und Angst, Sicherheit und Risikobereitschaft, Ruhe und Aktivität usw.
Gelingt dies nicht, kann das System in seinem Erhalt gefährdet sein. Dann können wir Stress bzw. die Auswirkungen der dann automatisch ausgelösten Sicherungsreaktionen erleben.
Zwei Formen von Stress: Eustress (positiv) und Distress (negativ)
Sehr wahrscheinlich begleitet Stress – der Stand der heutigen Stressforschung auch als „die Aktivierung der Möglichkeit zu einer (neuen) Anpassungsleistung“ bezeichnet wird – vermutlich sehr viele Ereignisse unseres Lebens. Insbesondere solche, die uns mit Neuem konfrontieren, die uns aus unserer Mitte bringen, dabei starke Emotionen wecken – jegliche Herausforderungen im Leben. Es heisst, dass ein gewisses Maß an Stimulation sogar lebensnotwendig ist. Insbesondere Erfahrungen, die unsere Persönlichkeit wachsen lassen und Kompetenzen in uns freilegen, und die wir als positiv empfinden und bewerten, werden als Eustress bezeichnet (gr. eu = wohl, gut, schön). Dem gegenüber stehen Stresserfahrungen, die als negativ und zu anstrengend empfunden und bewertet werden. Dies wird als Distress bezeichnet.
Erfahren wir zu wenig Anregung oder zu viel Stimulation, kann dies auf lange Sicht betrachtet bedrohlich und überlastend für unser System werden. Zu wenig Anregung wird auch als Deprivation bezeichnet (lat. = Mangel, Verlust, Entzug von etwas Erwünschtem). Zuviel Stimulation wird als Distress (gr. dis = doppel – Stress) bezeichnet.