Gewalt an Frauen* (und an Kindern) sind noch immer Themen, über die man nicht gerne in der Gesellschaft spricht. Während der Lockdowns in der Pandemie, in denen viele Familien mehr Zeit miteinander verbrachten und an ihre Wohnungen und Häuser gebunden waren, teilweise auch isoliert von anderen Menschen aufgrund der Maßnahmen, haben Gewalterfahrungen und Trauma – Ereignisse offensichtlich zugenommen. Doch dieses gesellschaftlich relevante und unbequeme Thema ist nicht etwa neu.
Gewalt spielt schon seit Jahrtausenden eine Rolle im Umgang miteinander. Trauma – Ereignisse sind leider Bestandteil des Lebens, ein sensibler Umgang mit Trauma – Reaktionen und Traumafolgestörungen ist noch relativ jung, entwickelt sich stetig weiter und bekommt, dank der Forschung, immer mehr Sichtbarkeit. Die Traumatherapeutin Lena Grabowski berichtet über die möglichen Folgen körperlich – seelischer Gewalterfahrungen und Genesungsmöglichkeiten, wenn das Leben „danach“ aus Ängsten und enormer Unsicherheit besteht.
Trauma – Ereignisse und Trauma – Reaktionen
Als Therapeutin mit der Spezialisierung auf Trauma habe ich bei meinen Klient*innen oftmals mit den Spätfolgen von traumatischen Ereignissen zu tun. Selbst nach jahrzehntelanger Etablierung von Frauen*- sowie Kinderrechten und vielen gut etablierten Vereinen und Verbänden, die Aufklärungsarbeit über „Gewalt gegen Frauen* und Kinder“ leisten, begegne ich noch immer häufig den Themen Gewalt, Unterdrückung und Maßregelung gegenüber bestimmten Personengruppen. Sie drückten sich in der Partnerschaft, in der Erziehung, in sozialen und bildenden Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, in der Pflege, in Hilfesystemen, im Beruf und in der Politik aus. Davon betroffen sind viele meiner Klient*innen, die nicht erst im Erwachsenenalter Gewalt erfahren haben, sondern bereits in ihrer Kindheit oder in der Adoleszenz.
Neben vielen Herausforderungen und möglichen Symptomen, die sich durch das Erleben von Gewalt ergeben und entwickeln können, steht ein sehr existenzieller Konflikt im Vordergrund: das Gefühl, den Wert als Mensch verloren zu haben. Sie kämpfen seither Tag für Tag um ein Leben jenseits von Ängsten, frei von Alpträumen oder Formen der Selbstzerstörung, und befinden sich dabei oftmals in einem Überlebens – Zustand, anstatt einem Gefühl zu leben.
Können Trauma – Ereignisse aufgearbeitet werden?
Für jede Person, mit der ich arbeite, sind die Trauma-Ereignisse, je nachdem, wie sie von Körper und Psyche abgespeichert sind und teilweise erinnert werden, stark belastende Erlebnisse gewesen. Überwältigende Erfahrungen wie beispielsweise das Erleben von Gewalteinwirkung können nicht mit gewohnten und „normalen“ Coping-Strategien bewältigt werden. Trauma kommt aus dem altgriechischen und heißt übersetzt: Wunde oder Verletzung. Diese kann entstehen, wenn schmerzlich überwältigende Momente das Gehirn buchstäblich in die „Klemme“ bringen und zu biologischen Reaktionen wie Flucht (flight) oder Kampf (fight) auffordern. Sind diese Reaktionen nicht möglich, um das eigene Überleben zu sichern, können der biologisch gesteuerte Totstellreflex (freeze) oder die Unterwerfung (fawn response) dabei helfen, die Situation zu bewältigen.
Ich erinnere mich an eine Klientin*, die ihre in der Familie erlebten Erfahrungen unter anderem mit selbstverletzenden Handlungen zu bewältigen versuchte. Sie befand sich während der Trauma-Therapie in medizinisch-psychiatrischer Untersuchung/Begleitung und wollte einen erneuten Klinikaufenthalt dringlichst vermeiden. Es waren insbesondere die ressourcevollen und bindungsstarken Momente in unseren Sitzungen, die ihr halfen, ihr altes, durch die Gewalterlebnisse bestimmtes Selbstbild allmählich abzulegen. Jenes alte Selbstbild, das ihr einredete, dass etwas mit ihr nicht stimme. Dass sie für das Gewalterleben verantwortlich sei. Da waren Gefühle von Scham und Schuld, die ihr einredeten, dass sie es nicht anders verdient habe. Und sie hatte auch Schamgefühle darüber entwickelt, „dass sie sich all das habe gefallen lassen“.
Trauma und der Wunsch nach Grenzen
Sie lernte während und auch nach ihrer Stabilisierungsphase, sich einen inneren sicheren Raum zu gestalten, in dem sie alle Regeln des Miteinanders selbst definieren konnte. Und erfuhr, dass sie mitsamt allen Regeln gehört, wahrgenommen und wertgeschätzt wurde. Der Weg, endlich zu fühlen, wo eigene Grenzen sind, war für sie schwierig, doch sehr lohnenswert. Denn das Wahrnehmen und Definieren von Grenzen zwischen ihr und einem Gegenüber lösten erstmals bewusst wahrgenommene Ängste aus, sie könne ihr Gegenüber und die Bindung zu diesem Menschen verlieren, würde sie „Nein“ zu etwas sagen, das dieser Mensch bekommen wollte, das sie aber nicht mochte. Dies wahrzunehmen veränderte sie und half ihr dabei, die selbstverletzenden Handlungen schrittweise zu verändern und gesünderes, selbstfürsorgliches Verhalten zu entwickeln. So lernte sie immer dann, wenn sich ein starker emotionaler Druck im Inneren zeigte und sie zu selbstverletzendem Verhalten aufforderte, andere Strategien kennen. Mit dem Schreiben von Geschichten, Körperübungen und Re-Orientierungsübungen lernte sie sich zu helfen, mit starken Gefühlszuständen in ihrer Psyche umzugehen, wenn sie mit diesen in ihrem Alltag alleine war.
Trauma und die Menschenwürde
Wie erwähnt, können Personen, die Gewalt erfahren haben, nicht autoaggressive Verhaltensweisen entwickeln. In ihnen kann ein diffuses Gefühl zurückbleiben, sie seien es nicht wert gewesen, etwas Besseres, Liebevolleres zu erleben. Das kann oftmals von Gefühlen wie Scham und Schuld begleitet werden, und nicht selten mit der Überzeugung einhergehen, die Gewalt ausübende Person, mit der diese Erfahrungen gemacht wurden, von der Verantwortung zu entbinden, sie sogar schützen zu wollen. Menschen, die Gewalterfahrungen machen, können das Gefühl für ihren eigenen Wert, ihre Daseinsberechtigung und ihre menschliche Würde verlieren.
Um zu einem bewussten Erleben der eigenen inneren Würde zurückzufinden, können zum einen traumatherapeutische Angebote beitragen. Zum anderen sind vor allem neue, würdevolle Erfahrungen im Miteinander notwendig. Gesunde Bindungs- und Beziehungserfahrungen, in denen ein stark verletzer Mensch erlebt, dass er um seiner selbst willen geliebt und wertgeschätzt wird. In diesen Momenten, in denen ein Mensch nicht mehr lieblos gebraucht oder benutzt wird und stattdessen gesunde und würdevolle Beziehungserfahrungen macht, kann sich seine Seele (und sein Bindungssystem) erholen und neue Wege gehen.
(Dieser Text wurde ein einem Magazin, OneWorldLtd Verlag, im Jahr 2022 herausgegeben. Die Verfasserin des Artikels nimmt explizit Abstand zu anderen Inhalten des Magazins.)