„Kinder müssen in verlässlichen, von Vertrauen geprägten Beziehungen aufwachsen, um stark zu werden.“ Johann W. von Goethe
von Lena Grabowski
Kinderschutz
Hierunter wird der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefährdungen ihres Wohls verstanden. Gleichzeitig wird im Kinderschutz darauf hingewiesen, dass Kinder und Jugendliche ein Recht darauf haben, einen gesamtgesellschaftlichen und sozial- wie familienpolitischen Schutz zu erfahren.
In den vergangenen Jahren hat sich die Vorstellung dessen, was unter Kinderschutz zu verstehen ist, nochmals grundlegend verändert. Dabei kann ein enges, mittleres und weites Verständnis von Kinderschutz unterschieden werden.
Ein enges Verständnis beschränkt sich auf den intervenierenden Kinderschutz, bei dem im Falle einer Kindeswohlgefährdung Jugendamt und Familiengericht in Ausübung des staatlichen Wächteramts berechtigt und verpflichtet sind, das Kind notfalls auch gegen den Willen der Eltern vor Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch zu schützen (Kinderschutzfall).
Demgegenüber bezieht ein mittleres Verständnis neben dem intervenierenden gleichermaßen auch den präventiven Kinderschutz mit ein. Zielgruppe sind in diesem Fall alle Eltern (primäre Prävention) bzw. eine umschriebene Gruppe belasteter Eltern (sekundäre Prävention), bei denen durch rechtzeitige Hilfe erreicht werden soll, dass es gar nicht erst zu einer Gefährdung des Kindes kommt. Dieses mittlere Verständnis liegt dem Bundeskinderschutzgesetz zugrunde, das den präventiven Kinderschutz u.a. durch die Bereitstellung Früher Hilfen sicherstellen will.
Schließlich geht ein weites Verständnis von Kinderschutz deutlich über den Bereich des Gewaltschutzes hinaus. Dieses Verständnis orientiert sich an sämtlichen in der UN-Kinderrechtskonvention enthaltenen Schutzrechten. Kinderschutz umfasst demzufolge – neben dem Schutz vor Gewalt – ebenso Diskriminierungsschutz, Unfallschutz, Gesundheitsschutz, Medienschutz sowie die Verwirklichung der Schutzrechte besonders vulnerabler Gruppen wie z.B. Kinder mit Behinderung, Pflege- und Adoptivkinder oder Kinder mit Fluchterfahrung.
Kinderrechte
Rechtliche Entwicklungen
Als das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) im Jahre 1900 in Kraft trat, hatte der Vater gemäß der ursprünglichen Fassung des § 1631 Absatz 2 BGB ausdrücklich noch das Recht, „kraft Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel gegen das Kind anzuwenden“. Es dauerte fast sechzig Jahre, bis das väterliche Züchtigungsrecht im Zuge des Gleichberechtigungsgesetzes 1958 ersatzlos gestrichen wurde.
In der Praxis änderte sich dadurch jedoch kaum etwas. Denn während das Jugendarbeits- schutzgesetz aus dem Jahre 1960 ein ausdrückliches Züchtigungsverbot im Lehr- und Arbeitsverhältnis enthielt und die Prügelstrafe in den 1970er-Jahren endlich auch aus den Schulen verbannt worden war, fehlte eine solche Norm für das Eltern-Kind-Verhältnis. In der öffentlichen Meinung und auch in der Rechtsprechung wurde die körperliche Züchtigung weiterhin als Gewohnheitsrecht der Eltern betrachtet. Noch Ende der 1980er-Jahre verkündete der Bundesgerichtshof (BGH) in einer Entscheidung, dass die Verwendung eines stabilen Wasserschlauchs als Schlaggegenstand als solches nicht als entwürdigende Behandlung anzusehen sei (BGH JZ 1988, 617).
Recht auf gewaltfreie Erziehung
Im Zusammenhang mit dem von den Vereinten Nationen 1979 proklamierten Internationalen Jahr des Kindes forderten der Deutsche Kinderschutzbund und der Deutsche Juristinnenbund erstmals, ein ausdrückliches Züchtigungsverbot in das Bürgerliche Gesetzbuch aufzunehmen. Im Rahmen der Beratungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags zu der ersten großen Kindschaftsrechtsreform schlug der Deutsche Juristinnenbund als Lösung dafür die folgende Formulierung vor: „In der Eltern-Kind-Beziehung ist die Menschenwürde zu achten und die freie Entfaltung der Persönlichkeit aller Familienmitglieder zu ermöglichen. Gewalt darf nicht angewendet werden.“
Trotz des reformerischen Geistes war die Zeit für ein Gewaltverbot in der Erziehung noch nicht reif. Der Rechtsausschuss lehnte die ausdrückliche Normierung eines Gewaltverbots ab und fand stattdessen für § 1631 Abs. 2 BGB die folgende, dann 1980 im Zusammenhang mit der großen Sorgerechtsreform Gesetz gewordene Fassung: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.“
Mit dieser Änderung war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur gewaltfreien Erziehung getan. Seitdem können Eltern in Deutschland nicht mehr von einem gesellschaftlichen Konsens oder gar von einer gesetzlichen Billigung ausgehen, wenn sie ihr Kind schlagen. Wichtig war auch, dass im Zuge dieser Reform der Begriff Elterliche Gewalt durch Elterliche Sorge ersetzt wurde.
Anfang der 1990er-Jahre wurde der Druck auf den Gesetzgeber durch die Verabschiedung der UN-Kinderrechskonvention (UN-KRK), die in Artikel 19 ein absolutes Gewaltverbot in der Erziehung enthält, auch von internationaler Seite verstärkt. Doch während Länder wie Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen und Österreich Gewaltverbote in ihren Gesetzen bereits durchgesetzt hatten, behielt in Deutschland die Abwehr gegen ein striktes und allgemeines Gewaltverbot in der Erziehung zunächst weiter die Oberhand.
Erst im Rahmen der zweiten großen Kindschaftsrechtsreform von 1998 gelang eine erneute Änderung des umstrittenen Paragrafen. Die damalige Formulierung lautete: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“ Ein absolutes Gewaltverbot wurde ein weiteres Mal abgelehnt, trotz des Drucks von politischen Parteien, Verbänden und aus der Wissenschaft, die immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und (späterer) Gewaltbereitschaft hinwiesen.
Der Regierungswechsel auf Bundesebene im Jahr 1998 brachte dann endlich den Durchbruch und machte den Weg frei für die lange geforderte Verankerung des Gewaltverbots in der Erziehung. Die seit November 2000 geltende Neufassung des § 1631 Absatz 2 BGB lautet: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Nach § 1631 Absatz 2 Satz 1 BGB haben also alle in Deutschland lebenden Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Das bedeutet, dass das Kind als Inhaber von Grundrechten – nämlich als Person mit eigener Würde – die Achtung seiner Persönlichkeit auch von den eigenen Eltern verlangen kann. Korrespondierend zu diesem Recht normiert § 1631 Absatz 2 Satz 2 BGB ein Verbot an die Eltern. Sie dürfen bei der Ausübung der Personensorge körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen nicht mehr einsetzen.
Verstoßen die Eltern gegen dieses Verbot, soll ihnen und den betroffenen Kindern und Jugendlichen vor allem Hilfe angeboten werden. Denn Ziel des Gesetzes war die Ächtung von Gewalt in der Erziehung und nicht – wie es in der Begründung für das Gesetz ausdrücklich heißt – die Kriminalisierung der Familie. Nicht die Strafverfolgung oder der Entzug der elterlichen Sorge sollen in Konfliktlagen im Vordergrund stehen, sondern Hilfen für die betroffenen Familienmitglieder. Ergänzend wurde daher in § 16 Absatz 1 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) die Pflicht der Jugendbehörden angefügt, „Wege aufzuzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können“.
Weitere rechtliche Entwicklungen
Weitere rechtliche Verbesserungen zugunsten des Schutzes von Kindern vor Gewalt wurden in den 2000er-Jahren verabschiedet. Im Jahr 2002 trat das Gewaltschutzgesetz (GewSchG) in Kraft. Im Falle häuslicher (Partner-)Gewalt sind seitdem zivilrechtliche Kontakt-, Näherungs- und Belästigungsverbote möglich, mit der Folge, dass auch die (mit-) betroffenen Kinder besser geschützt sind und in zahlreichen Fällen nicht mehr aus ihrem gewohnten häuslichen Milieu herausgerissen werden.
Im Jahr 2005 folgte das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) mit der Einfügung des § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) in das Achte Sozialgesetzbuch. Neben differenzierten Verfahrensrichtlinien bei gewichtigen Anzeichen für eine Gefährdung wurden die Jugendämter verpflichtet, auch in den Fällen das Familiengericht anzurufen, in denen die Eltern an einer Abschätzung des Gefährdungsrisikos nicht mitwirken und die Gefahr für das Kind ansonsten im Dunkeln bleiben würde.
Nächster Schritt war das 2008 in Kraft getretene Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls, in dessen Zuge der § 1666 BGB reformiert wurde. Das Familiengericht hat nunmehr die Möglichkeit, sich stärker als bisher in den Hilfeprozess einzubringen und bereits im Vorfeld eines möglichen Sorgerechtseingriffs sogenannte Gebote oder Verbote auszusprechen, um auf diese Weise – beispielsweise durch die Anordnung von Arztbesuchen oder des Besuchs einer Kita – das Kind besser zu schützen.
Nur ein Jahr später folgte eine umfassende Reform des Familienverfahrensrechts (Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit – FamFG), das ebenfalls wichtige kinderschutzrelevante Bestandteile enthält. Zu den Neuerungen gehören ein Beschleunigungsgebot in kindschaftsrechtlichen Verfahren, die Präzisierung der Aufgaben des Verfahrensbeistands (Anwalt des Kindes) sowie die Einführung eines sogenannten Erörterungsgesprächs. Das Familiengericht erhielt damit die Möglichkeit, bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung die Sorgeberechtigten und in geeigneten Fällen auch das Kind unter Beteiligung des Jugendamts zu einem Gespräch vorzuladen, in dem die Situation des Kindes erörtert und gegebenenfalls auf die Annahme von Hilfen hingewirkt wird.
SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe – Gesetze
Bundeskinderschutzgesetz
Schließlich trat 2012 nach mehrjähriger Debatte das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) in Kraft. Ausgangspunkt für die gesetzlichen Reformen waren tödlich verlaufene Fälle schwerer Misshandlung und Vernachlässigung. Bei der Aufarbeitung dieser und weiterer Fälle stellte sich heraus, dass zahlreiche misshandelte und vernachlässigte Kinder in Einrichtungen und bei Behörden zwar bekannt waren, aber die Anzeichen für eine Gefährdung zu spät erkannt wurden und die Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften unzureichend war. Ein weiterer Anlass waren die bekannt gewordenen und im Rahmen der Runden Tische „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ und „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ erörterten Fälle schwerer Gewalt durch Fachkräfte.
Daraufhin sprach sich die Bundesregierung 2005 dafür aus, das Wächteramt und den Schutzauftrag des Staates zu stärken und ein soziales Frühwarnsystem zu entwickeln. Zwei Jahre später wurde das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) gegründet, das bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln angesiedelt ist. Ziel des Bundeskinderschutzgesetzes gemäß § 1 Absatz 1 KKG (Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz) ist es, „das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen und ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung zu fördern“.
Zu diesem Zweck sollen Eltern bereits in der Schwangerschaft und vor allem in den ersten Lebensjahren des Kindes bei der Wahrnehmung ihres Erziehungsrechts und ihrer Erziehungsverantwortung beraten und unterstützt werden. Aber auch der in Einzelfällen notwendige Kindeswohlschutz soll gestärkt werden.
Kinderschutz wird also in einem weiten Sinne verstanden. Der Staat soll nicht erst dann tätig werden, wenn eine Gefährdung des Kindeswohls bereits eingetreten ist, sondern viel früher. Von Anfang an sollen die Kompetenzen von Eltern und auch von Kindern gestärkt werden, damit es gar nicht erst zu Beeinträchtigungen oder gar Schädigungen kommt. Entsprechend beruft sich der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zum Bundeskinderschutzgesetz auf Art. 3 und 18 UN-Kinderrechtskonvention. „Nach Artikel 3 Absatz 2 verpflichtet sich der Staat, für das Kind den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; Artikel 18 Absatz 2 verpflichtet zur angemessenen Unterstützung der Eltern in ihrer Aufgabe, das Kind zu erziehen“ (Gesetzesbegründung zum BKiSchG, Bundestags-Drucksache 17/6256 vom 22.06.2011, 15–17). Die wichtigsten Neuregelungen des Bundeskinderschutzgesetzes lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen:
Frühe Hilfen: Erstmals werden „Frühe Hilfen“ gesetzlich verankert. Gemäß der in § 1 Absatz 4 KKG enthaltenen Legaldefinition wird unter „Frühe Hilfen“ die „Vorhaltung eines möglichst frühzeitigen, koordinierten und multi-professionellen Angebots im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern vor allem in den ersten Lebensjahren für Mütter und Väter sowie schwangere Frauen und werdende Väter“ verstanden. § 2 Absatz 1 KKG sieht vor, dass Eltern sowie werdende Mütter und Väter „über Leistungsangebote im örtlichen Einzugsbereich zur Beratung und Hilfe in Fragen der Schwangerschaft, Geburt und der Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren informiert werden [sollen]“.
Die zuständigen örtlichen Stellen – in der Regel das Jugendamt – sind gemäß § 2 Absatz 2 KKG „befugt, den Eltern ein persönliches Gespräch anzubieten. Dieses kann auf Wunsch der Eltern in ihrer Wohnung stattfinden.“ Entsprechend sieht § 16 Absatz 3 SGB VIII nunmehr vor, dass „Müttern und Vätern sowie schwangeren Frauen und werdenden Vätern […] Beratung und Hilfe in Fragen der Partnerschaft und des Aufbaus elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen angeboten werden [sollen]“.
Verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz: Alle wichtigen Akteure im Kinderschutz – darunter Jugendämter, Kitas, Schulen, Beratungs- und Frühförderstellen, Familienbildungsstätten, Ärztinnen und Ärzte sowie andere Angehörige von Heilberufen, Schwangerschafts-(konflikt) beratungsstellen, Gesundheitsämter, Krankenhäuser, Agenturen für Arbeit, Polizei und Familiengerichte – werden insbesondere im Bereich Früher Hilfen in einem Kooperationsnetzwerk zusammengeführt.
Einsatz von Familienhebammen: Gemäß § 3 Absatz 4 KKG soll das Netzwerk zur Beförderung Früher Hilfen durch den Einsatz von Familienhebammen gestärkt werden. Die zusätzlich qualifizierten Familienhebammen sollen während der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr des Kindes in besonders belasteten Familien zum Einsatz kommen. Aufgrund ihres einfachen Zugangs zu Familien und ihrer hohen Akzeptanz bei Müttern und Vätern wird den Familienhebammen (alternativ auch Kindergesundheitsschwestern bzw. -pflegern) eine Schlüsselrolle im Kontext Früher Hilfen zugedacht. Sie sollen Eltern in belasteten Lebenssituationen sowohl medizinische als auch psychosoziale Unterstützung anbieten, bei Bedarf auf die Annahme weitergehender Hilfen hinwirken und als Lotsen im Netzwerk Früher Hilfen tätig sein.
Zusammenarbeit bei Kindeswohlgefährdung
Die Zusammenarbeit von Institutionen im Falle gewichtiger Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung war zuvor nur für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe verbindlich geregelt, § 8a SGB VIII. Das BundesKinderSchutzGesetz sieht nun klare und abgestufte Regelungen für zahlreiche weitere Berufsgruppen vor. Gemäß § 4 Absatz 1 KKG sollen sogenannte Berufsgeheimnisträger bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten „die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird“.
Zur Einschätzung der Gefährdung haben diese Personen gegenüber dem Jugendamt Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft (ISEF), § 4 Absatz 2 KKG. Gelingt es nicht, die Gefahr abzuwenden, so sind sie nach § 4 Absatz 3 KKG befugt, „dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen“, das daraufhin von sich aus tätig werden muss. Ergänzend enthält § 8b SGB VIII einen Anspruch auf Beratung bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft für alle Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen.
Wahrnehmung des Schutzauftrags
Das Jugendamt ist nunmehr verpflichtet, im Falle gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes regelhaft einen Hausbesuch durchzuführen, soweit eine sozialpädagogische Einschätzung des Falls diese Maßnahme für erforderlich hält und der wirksame Schutz des Kindes dadurch nicht infrage gestellt wird.
Schutz von Kindern in Einrichtungen: Vor dem Hintergrund des Bekanntwerdens erschreckender Fälle sexuellen Missbrauchs in Institutionen hat der Gesetzgeber die Betriebserlaubnis neu geregelt. Gemäß § 45 Absatz 3 SGB VIII wird eine Erlaubnis nur dann erteilt, wenn „zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung finden“. Mit dieser Vorschrift wird Bezug genommen auf das in Art. 12 Abs. 1 UN-KRK enthaltene Recht auf Beteiligung „in allen das Kind berührenden Angelegenheiten“.
Neu ist auch, dass alle hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe gemäß § 72a SGB VIII in regelmäßigen Abständen ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen müssen um auszuschließen, dass sie einschlägig (z.B. wegen sexuellen Missbrauchs) vorbestraft sind. Bei ehrenamtlich Tätigen sollen die Träger der Kinder- und Jugendhilfe entscheiden, für welche Tätigkeiten ein solches Führungszeugnis notwendig ist.
Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe
Sämtliche Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe sind zu kontinuierlicher Qualitätsentwicklung verpflichtet. § 79a SGB VIII verpflichtet die Träger von Einrichtungen und Diensten, „Grundsätze und Maßstäbe für die Bewertung der Qualität sowie geeignete Maßnahmen zu ihrer Gewährleistung […] weiterzuentwickeln, anzuwenden und regelmäßig zu überprüfen“. Hierzu zählen auch „Qualitätsmerkmale für die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und ihren Schutz vor Gewalt“. Die Verpflichtung zur Qualitätsentwicklung bezieht den Prozess der Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII ausdrücklich mit ein.
Stärkung der Kinderrechte
Gemäß § 8 Absatz 3 SGB VIII haben Kinder und Jugendliche, die sich in einer Not- und Konfliktlage befinden, nunmehr „Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten“, allerdings nur solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde. Ein solcher Anspruch ist vor allem in denjenigen Fällen wichtig, in denen die Eltern selbst das Wohl ihres Kindes gefährden. Ein uneingeschränktes Beratungsrecht des Kindes ohne Kenntnis seiner Eltern besteht jedoch auch nach den Regelungen des BKiSchG weiterhin nicht.
Was ist Kindeswohlgefährdung?
Formen und Folgen der Kindeswohlgefährdung
„ein das Wohl und die Rechte eines Kindes (nach Maßgabe gesellschaftlich geltender Normen und begründeter professioneller Einschätzung) beeinträchtigendes Verhalten und Handeln bzw. ein Unterlassen einer angemessenen Sorge durch Eltern oder andere Personen in Familien oder Institutionen (…), das zu nichtzufälligen Verletzungen, zu körperlichen und seelischen Schädigungen und/oder Entwicklungsbeeinträchtigungen eines Kindes führen kann (…)“.
(Kai Biesel, Ulrike Urban-Stahl, Lehrbuch Kinderschutz, S.95 ff)
Kindeswohlgefährdung ist ein soziales Konstrukt, das auf Normen, Werten, Erwartungen und Perspektiven des Betrachters/der Betrachterin basiert. Selten sind Kindeswohlgefährdungen eindeutig zu verstehen, stattdessen sind sie als komplexe, vieldeutige Situationen mit vielen Beteiligten zu betrachten, die von entsprechenden Fachkräften eingeschätzt werden müssen. Die folgenden Formen der Misshandlungen können sowohl im familialen als auch im institutionellen Bereich stattfinden. Darum dient das angestrebte Aufklärungsmodell für pädagogisches Fachpersonal darauf ab, die Kinder und Jugendlichen besser und früher als „Opfer von Gewalt“ erkennen und entsprechende aufdeckende Prozesse besser begleiten zu können.
Abgegrenzt wird die Kindeswohlgefährdung, die vorrangig durch Eltern oder Dritte entsteht, zu den Formen der Selbstgefährdung. Hierzu zählen wir folgendes Risikohandeln:
- Schulabstinenz
- Drogengebrauch
- Trebegang
- S-Bahn-Surfen
- Kriminalität
Körperliche Misshandlungen
Körperliche Misshandlungen haben unterschiedliche Erscheinungsformen. Formen können Schläge oder Prügel sein, die mit der Hand, Gegenständen wie Gürtel, Stöcke, Haushaltsgegenstände, oder Waffen durchgeführt werden können. Würgen, Schütteln, Stoßen und das Werfen mit Gegenständen nach Kindern werden ebenfalls dazu gezählt. Weitere Misshandlungen sind: die Kinder hungern oder dursten zu lassen, oder diesen Schnittverletzungen, Verbrennungen oder Unterkühlungen beizufügen.
Körperliche Misshandlungen können zu Erziehungsmaßnahmen eingesetzt werden, entweder zur Disziplinierung oder zur Bestrafung. Sie können aber auch impulsiv in Stress- oder Krisensituationen entstehen. Oftmals können Eltern eine Art Kontrollverlust erleben und die Ausübung körperlicher Gewalt stellt den Versuch dar, die Kontrolle über das Kind bzw seine Verhaltensweisen wiederzuerlangen.
Folgen:
Je nach Stärke, Art und Dauer der Gewaltausübung können sie zu leichten Verletzungen (blaue Flecken), schweren Verletzungen (Knochenbrüche, Brandwunden), zu irreversiblen Funktionsbeeinträchtigungen (Gehbehinderung, geistige Einschränkung) oder sogar zum Tod führen (bei Säuglingen und Kleinkindern).
Körperliche Misshandlungen gehen bei Kindern stets mit seelischen Belastungen einher. Sie erleben nicht nur körperlichen Schmerz, sondern auch Angst, Scham, Demütigung, Erniedrigung und Entwürdigung. Darum haben körperliche Misshandlungen auch immer psychische Folgen für die Kinder und Jugendlichen.
Seelische Misshandlung
Diese Misshandlungsform umfasst „chronische qualitativ und quantitativ ungeeignete und unzureichende, altersinadäquate Handlungen und Beziehungsformen zu Kindern. Dem Kind wird zu verstehen gegeben, es sei wertlos, mit Fehlern behaftet, ungeliebt, ungewollt, gefährdet oder nur dazu nütze, die Bedürfnisse anderer Menschen zu erfüllen“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S.45).
Seelische Misshandlung wird oft auch als psychische oder emotionale Misshandlung bezeichnet.
Formen:
- feindselige Ablehnung (z.B. ständiges Herabsetzen, Beschämen, Kritisieren oder Demütigen eines Kindes oder einer/eines Jugendlichen)
- Ausnutzen und Korrumpieren (Kind/Jugendlicher wird zu selbstzerstörerischen oder strafbaren Verhalten angestiftet/oder Verhalten wird widerstandslos zugelassen)
- Terrorisieren (z.Bsp. Kind/Jugendlicher wird durch Drohung in einen dauerhaften Angstzustand gehalten)
- Isolieren (Kind/Jugendlicher wird in ausgeprägter Form von altersentsprechenden sozialen Kontakten ferngehalten)
- Verweigerung emotionaler Responsivität (Signale der Kinder/Jugendlichen sowie deren Bedürfnisse nach emotionaler Zuwendung werden anhaltend und in ausgeprägter Form übersehen)
Seelische Misshandlung kann durch eine aktive Ausübung (verübend) erfolgen, indem der junge Mensch angeschrien oder beleidigt wird, oder passiv ausgeübt (vergessend, vernachlässigend) durch konstante Nichtbeachtung. Hier gibt es Überschneidungen mit der in Punkt 2.5. genannten Vernachlässigung.
Seelische Misshandlung kann situativ stattfinden, oder aber als chronisches Interaktionsmuster agieren. Hier erfährt das Kind/der Jugendliche permanent Kritik und Ablehnung an seiner Person. Die Misshandlung kann auch subtil erfolgen, indem die Bezugsperson chronisch unnahbar ist, oder in Form von demonstrativem verhalten, indem das Kind enorm angebrüllt wird.
Folgen:
Die Folgen seelischer Misshandlungen entwickeln sich oftmals langsam und können erst später als solche erkannt werden. Die psychischen Symptome können ebenfalls durch andere Ursachen ausgelöst worden sein, weshalb ein Erkennen von seelischen Misshandlungen ein eher schwieriger Prozess ist. Was jedoch gilt: je jünger das Kind, und je häufiger und regelmässiger es Misshandlungen erlitten hat, umso schädlicher sind die Auswirkungen auf die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung. Häufig können die jungen Kinder, die auf eine sichere Bindung nahezu angewiesen sind, diese vertrauensvolle Bindung zu den Erwachsenen nicht auf und entwickeln aufgrund der Misshandlungen ein unsicheres Bindungsmuster.
Bei ihnen werden im verlauf häufig Entwicklungsverzögerungen und -störungen beobachtet. Das Selbstwertgefühl ist erfahrungsgemäß sehr früh geschwächt, ein gesundes Selbstvertrauen konnte sich nicht entwickeln. Häufig sind diese Kinder und Jugendlichen emotional instabil und haben Schwierigkeiten, Aggressionen zu regulieren. Dies hat meist eine erschwerte Gestaltung sozialer Beziehungen zur Folge, die sich bis ins hohe Erwachsenenalter ziehen können. Auch erschwert es eine einfühlsame Erziehung eigener Kinder, sodass der Konflikt der Traumatisierung an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird (Transgenerationales Trauma). Seit einigen Jahren werden auch hochstrittige und eskalierende Elternkonflikte um das Kind sowie das Miterleben von Partnerschaftsgewalt zu den seelischen Misshandlungen gezählt.
Kurze Zusammenfassung: Hochstrittige Elternkonflikte
Kinder haben ein Recht auf Kontakt zu beiden Elternteilen, sofern der Kontakt keine Kindeswohlgefährdung darstellt. Die Paarebene sollte von der Beziehung zum Kind unabhängig begleitet werden und sollte aus dem erzieherischen Umgang mit dem Kind herausgehalten werden. Auf der Elternebene soll sich einvernehmlich über die Zukunft des Kindes unter Wahrung seines Rechts auf beide Elternteile verständigt werden.
Kurze Zusammenfassung: Partnerschaftsgewalt/Miterleben häuslicher Gewalt
Hier werden Kinder meist Zeugen von Gewalt. Für diese Kinder stellt dies meist eine hohe emotionale Belastung, Verunsicherung und Überforderung dar. Sie erleben Angst, Ohnmacht, Wut, Trauer, Mitleid, Erstarrung, Hilflosigkeit und ähnliche überwältigende Gefühle. Oftmals können sie dies nicht in Worte fassen. Manche von diesen Kindern entwickeln zu dem elterlichen „Opfer“ eine Co-Abhängigkeit und versuchen es zu trösten und eine Ersatzliebe zu ermöglichen. Nicht selten wird auch versucht, den elterlichen Streit zu verhindern, sodass sie so manches Mal selbst in die Gewaltsituation hineingeraten und ebenfalls zum Opfer von Gewalt werden.
Bei diesen Kindern können Verhaltensauffälligkeiten beobachtet werden, wie: Unkonzentriertheit, sozialer Rückzug, Aggression, Einnässen u.Ä.. Mitunter können sich auch bei den betroffenen Kindern posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln.
Nach Auswertung unterschiedlicher Dunkelfeldstudien gehen Experten*innen davon aus, dass das Miterleben von Partnerschaftsgewalt die am häufigsten vorkommende Kindeswohlgefährdung darstellt.
Vernachlässigung
„Vernachlässigung ist die andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen autorisierte Betreuungspersonen), welche zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre.“ (Schone et al. 1997, S.21)
Diese Definition umschreibt einen chronischen Zustand der Mangelversorgung eines Kindes. Die Vernachlässigung ist auf mehreren Ebenen anzusiedeln.
Formen:
Körperliche Vernachlässigung: Hierzu zählen unzureichende Nahrung und Flüssigkeitsaufnahme, unzureichende körperliche Hygiene und witterungsunangemessene Kleidung, ungeeigneter Wohnraum und mangelnde medizinische Versorgung.
Kognitive und erzieherische Vernachlässigung: Sie betrifft einen Mangel an anregenden sprachlichen und anderen Erfahrungen, unzureichende Spielmöglichkeiten, fehlende Fürsorge hinsichtlich des Schulbesuchs oder angemessener Schulmaterialien, fehlende Beachtung besonderer Erziehungs- oder Förderungsbedarfe oder von Schwierigkeiten in der Schule/Kita.
Emotionale Vernachlässigung: Diese umfasst fehlende oder unzuverlässige Reaktionen auf emotionale Signale des Kindes, mangelnde Zuwendung und einen Mangel an Wärme in der Beziehung zum Kind.
Unzureichende Beaufsichtigung: Diese Form der Vernachlässigung umfasst das Alleinlassen des Kindes über einen dem Alter nicht entsprechenden Zeitraum als auch auf das unerwartete Fernbleiben des Kindes.
Vernachlässigung heisst, dass etwas „nicht getan“ wird, das zur Sicherung des Kindeswohls notwendig wäre. Es wird zwischen passiven und aktiven Vernachlässigungen unterschieden. Passiv wird mit „unbewusst“ gleichgesetzt, und heisst soviel, dass Eltern nicht wissen oder verstehen, was die Kinder und Jugendlichen brauchen oder dass sie nicht in der Lage sind, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Oft entsteht dies durch unzureichendes Wissen, mangelnde Empathie, Überforderung oder Unvermögen.
Aktive Vernachlässigung bedeutet eine fehlende Bereitschaft zur angemessenen Versorgung des Kindes/Jugendlichen oder wissentliche Verweigerung von Nahrung und Schutz.
Folgen:
In beiden Fällen, der passiven und der aktiven Vernachlässigung, findet eine Bindungs- und Beziehungsstörung statt. Diese Formen können sowohl in armen Familien auftreten, in denen Eltern ohne Ausbildung sind, arbeitslos, abhängig von Transferleistungen und wenig Perspektiven für sich selbst. Sie können sich aber auch in materiell gut gestellten Familien zeigen, was sich meist in materieller Überversorgung bei emotionaler Unterversorgung zeigt. Hier fehlt ebenfalls meist eine verlässliche zugewandte emotionale Bezugsperson.
„Bei einer in 1997 vorgestellten Studie kam heraus, dass es sich bei dem Phänomen der Vernachlässigung – sowohl seiner quantitativen Ausprägung nach als auch hinsichtlich seiner möglichen und realen Auswirkungen – um eine der größten Herausforderungen in der sozialpädagogischen Arbeit überhaupt handelt. Ein erheblicher Anteil der sozialpädagogischen Betreuungsverhältnisse, die ja zumeist erst in späteren Lebensjahren einsetzen, sind oft nichts anderes als der sozialpädagogische Umgang mit den Folgen einer häufig nicht erkannten Vernachlässigung (z.Bsp. Unzureichende Versorgung und Anregung) in den ersten Lebensjahren.“ (ebd., S.14)
Sexuelle Gewalt
Diese Form wird auch als sexualisierte Gewalt oder sexueller Missbrauch bezeichnet. Sie „umfasst jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind auf Grund seiner körperlichen, emotionalen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann bzw. bei der es deswegen auch nicht in der Lage ist, sich hinreichend wehren und verweigern zu können. Die MissbraucherInnen nutzen ihre Macht- und Autoritätsperson sowie die Liebe und Abhängigkeit der Kinder aus, um ihre eigenen (sexuellen, emotionalen und sozialen) Bedürfnisse auf Kosten der Kinder zu befriedigen und diese zur Kooperation und Geheimhaltung zu veranlassen.“ (Deegener 2005, S.38)
Formen:
Zur sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zählen unterschiedliche Formen wie Belästigung und Masturbation, oraler, analer oder genitaler Verkehr, aber auch die sexuelle Ausbeutung durch Einbeziehung von Minderjährigen in pornographische Aktivitäten und Prostitution (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 40-43).
Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als Form der Kindeswohlgefährdung unterscheidet sich von den anderen Formen der Kindeswohlgefährdung und benötigt einen anderen, professionellen Umgang.
Erwachsene, die sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ausüben, kommen aus allen sozialen Schichten. Die überwiegende Mehrheit ist männlich (80 – 90%) und kennt die Kinder oftmals bevor der sexualisierte Akt stattfindet. Ein Teil von ihnen sind Familienmitglieder, wie Väter, Stiefväter, Brüder, Opa, Onkel – doch auch Mütter sind darunter zu finden.
Häufig handelt es sich auch um Erwachsene und ältere Jugendliche aus dem familialen und sozialen Nahbereich wie etwa Verwandte, Pädagogen*Innen, Trainer*Innen, Freunde*Innen der Eltern oder Babysitter. Viele der Täter*Innen sind „Mehrfach – Täter*Innen“ und werden häufiger sexuell übergriffig.
Folgen:
Sowohl das Erleben als auch die Folgen sexueller gewalt sind abhängig vom Alter, dem Entwicklungsstand und er Persönlichkeit des Kindes/Jugendlichen, der Dauer, der Intensität der sexuellen Gewalt und der Art der Beziehung des Kindes zu dem/der sexuell ausübenden „Täter*In“. Die meisten Betroffenen berichten von Vertrauensverlust, Sprachlosigkeit, Schuld- und Schamgefühlen, Ohnmacht, Angst und Zweifel an der eigenen Wahrnehmung (Enders 2008, S. 129).
Es hat großen Einfluss auf die auf die Verarbeitung des Erlebten und die Folgen für das Kind, in welcher Weise die sexuelle Gewalt aufgedeckt wird, ob das Kind dabei Glauben findet und Eltern sowie enge Bezugspersonen zu ihm stehen und es unterstützen.
Körperlich können Verletzungen oder Entzündungen im genitalen, analen und oralen Bereich festgestellt werden. Sexuelle gewalt über körperliche Befunde aufzudecken gelingt meist nur selten und erfordert eine hohe Sensibilität der entsprechenden medizinischen Fachkräfte.
Psychisch können sich unterschiedliche Verhaltensweisen wie Distanzlosigkeit, unangebrachtes Sexualverhalten, psychotraumatische Belastungsstörungen, Angst, Depressionen, ein geringes Selbstwertgefühl, überangepasstes Verhalten, selbstverletzendes oder nach Außen aggressives Verhalten zum Ausdruck bringen.
Psychosomatisch werden oftmals Ekzeme, Allergien, Essstörungen und endokrine Autoimmunerkrankungen als Folgen festgestellt.
Kinder psychisch kranker Eltern
Erwachsene, die psychisch krank sind, haben oftmals auch Kinder. Diese Kinder sind mit den entsprechenden Problemen, Begrenzungen und Herausforderungen, die das mit sich bringt, konfrontiert. Schätzungen zufolge betrifft das etwa 3,8 Millionen Kinder allein in Deutschland.
Unter „psychisch krank“ fallen Depressionen, Neurosen, Psychosen, Suchterkrankungen und viele mehr. Die Situation darf nicht pauschal als Kindeswohlgefährdung betrachtet werden. Ob eine Kindeswohlgefährdung zu verzeichnen ist, hängt von multifaktoriellen Gründen ab. Darunter fällt die Dauer der Erkrankung, der Beginn/Zeitpunkt der Erkrankung, und der gesamten Lebenssituation der Familie ab. Beispielsweise muss geprüft werden, welche Ressourcen sich im näheren familialen Umfeld befinden, wie alt das Kind ist, und ob es sich in einem sonst sicheren Netzwerk eingebunden fühlt. Dennoch birgt die psychische Erkrankung eines Kindes die Gefahr einer hohen Belastung für das Kind/den Jugendlichen in sich.
Oft wissen die Kinder/Jugendlichen nichts über die Erkrankung des Elternteils und können dementsprechende Verhaltensweisen der Erwachsenen nicht wirklich einschätzen. Dieses Phänomen kann eine hohe Belastung darstellen.
Bewertungs- und Entscheidungsprozesse
Gefährdungseinschätzungen sind bei Vorliegen gewichtiger Anhaltspunkte nach § 8a SGB VIII unter Mitwirkung mehrere Fachkräfte zu realisieren und es sind auch die Eltern bzw die entsprechenden Personen und das Kind oder der/die Jugendliche einzubeziehen, sofern dadurch nicht der wirksame Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen in Frage gestellt ist.
Fachkräfte des Jugendamts und weitere handlungsunterwiesene Fachkräfte sollen sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind verschaffen, die eventuelle Notlage erkennen und angemessen situativ handeln können.
Es gibt für Kinder und Jugendliche im Alter von 0-2, 3-5, 6-13, 14-18 Jahren entsprechende Ampelbögen, die den Bewertungs- und Entscheidungsprozessen einer Kindeswohlgefährdung dienen sollen. Im Folgenden finden Sie die Präambel sowie den Leitfaden zum Berliner Kinderschutzbogen. Die Bögen werden vom Träger ausgehändigt, sobald ein Verdacht auf Kindeswohlgefährdung besteht und dieser mit einer entsprechenden neutralen Fachkraft für Kinderschutz analysiert werden soll.
Ziel des Prozesses der Gefährdungseinschätzung ist es, einerseits herauszufinden, ob die Sicherheit und Grundversorgung des Kindes/Jugendlichen durch Eltern oder andere Bezugspersonen gegenwärtig oder zukünftig gewährleistet sind. Andererseits dient sie im Fall einer sich bestätigenden Kindeswohlgefährdung dazu, notwendige und geeignete Hilfe ausfindig zu machen.
Werden Fachkräften der Kinde- und Jugendhilfe Informationen bekannt, die auf eine Kindeswohlgefährdung hinweisen, so müssen sie einschätzen, ob es sich um sogenannte „gewichtige Anhaltspunkte“ für die Gefährdung des Wohl eines Kindes/Jugendlichen handelt. Ist dies der Fall, so haben Mitarbeiter des Jugendamtes im Zusammenhang mehrerer Fachkräfte und Mitarbeiter*innen der freiein Kinder- und Jugendhilfe unter Einbeziehung einer Insofern erfahrenen Fachkraft das Gefährdungsrisiko für den jungen Menschen einzuschätzen.
Darüber hinaus sind auch andere Personen mit entsprechender Profession verpflichtet, bei einem akuten Verdacht auf Kindeswohlgefährdung und Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte nach § 4 KKG dies zu melden.
Nochmals zu unterscheiden ist zwischen
a) Selbstmelder*Innen, die von sich aus den Kontakt suchen Um Hilfe zu holen
und
b) Fremdmelder*Innen, dies sind Privatpersonen aus dem Umfeld des Kindes oder Mitarbeiter einer Einrichtung, die das Kind besucht.
Leitfaden zum Berliner Kinderschutzbogen
Präambel
Kinderschutz ist eine der verschiedenen Aufgaben der Jugendämter. Für den Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD) gehört dies zu den Hauptaufgaben.
Der Umgang mit Kindeswohlgefährdung bedarf einer respektvollen und die Menschenwürde achtenden Haltung. Die Verantwortung bei der Sicherstellung von Kinderschutzaufgaben setzt ein hohes Maß an fachlicher Professionalität und ein fundiertes Methodenverständnis voraus.
Mit dem Netzwerk Kinderschutz und den Ausführungsvorschriften über die Umsetzung des Schutzauftrages nach § 8a SGB VIII bei Kindeswohlgefährdung (AV-Kinderschutz) wurden Verfahrensstandards definiert.
Der vorliegende Berliner Kinderschutzbogen unterstützt das fachlich fundierte Handeln von Fachkräften der Jugendhilfe im Kinderschutz. Für die Umsetzung der entwickelten fachlichen Konzepte benötigt der RSD in den Jugendämtern Ressourcen, Zeit und qualifiziertes Fachpersonal. Für jedes gefährdete Kind ist der Berliner Kinderschutzbogen auszufüllen.
Für eine Risikoeinschätzung, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, ist eine Inaugenscheinnahme des Kindes, sowie die Beobachtung der Interaktion zwischen Kind und den jeweiligen Bezugspersonen erforderlich. Es sind immer mehrere Kontakte (darunter auch Hausbesuche) zur Familie erforderlich, um fundierte Aussagen, die in eine Risikoeinschätzung münden, treffen zu können. Hierzu wird Zeit (Kontakte lassen sich nicht in einem 5 Minutengespräch aufbauen, Interaktionen können nur über einen längeren Zeitraum der Beobachtung eingeschätzt werden) benötigt.
Der Prozess der Risikoeinschätzung muss sich im Rahmen des Einzelfalles so oft wiederholen, bis eine Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen werden kann.
Entstehung des Berliner Kinder-schutzbogens | Der im Rahmen des Stuttgarter Kinderschutzprojekts (10/2000 bis 03/2002) entwickelte und erprobte Kinderschutzbogen wurde mit wissenschaftlicher Beratung durch Hr. Dr. Kindler vom Deutschen Jugendinstitut (dji) und in Kooperation mit dem ASD- Fachzirkel „Kinderschutz“ des Jugendamtes Stuttgart und dem Jugendamt Düsseldorf überarbeitet.
Die Version vom 11.7.2005 bezieht das im dji-Handbuch „Kindeswohlgefährdung und Allgemeiner Sozialdienst“ aufbereitete internationale Fachwissen mit ein. Die im Kinderschutzbogen verwendeten Kriterien wurden von Hr. Dr. Kindler auf ihre wissenschaftlich nachgewiesene Aussagekraft hin überprüft und entsprechend geändert bzw. komprimiert. Die vorliegende Berliner Version ist 2007 von einer Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aus allen 12 Bezirken und des Senats für Bildung, Wissenschaft und Forschung entwickelt worden. |
Diagnostik-Instrument zur Gefähr-dungsein-schätzung | Der Kinderschutzbogen kommt bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung zum Einsatz, wenn sich nach dem 1.Check der Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung verstärkt hat und nicht ausgeschlossen werden kann bzw. eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Der Kinderschutzbogen wird für die Altersstufen 0 bis unter 18 Jahre eingesetzt. Er bezieht sich auf alle Formen von Gefährdung und Gewalt.
Der Kinderschutzbogen unterstützt das fachlich fundierte Handeln von Fachkräften der Jugendhilfe im Kinderschutz. Er dient als Wahrnehmungs-, Dokumentations- und Bewertungsinstrument bei Kindeswohlgefährdung vom Erkennen über das Beurteilen bis zum Handeln. Weiter dient er zur Kommunikation und Koordination unter Fachkräften und als Grundlage für das Gespräch mit den Betroffenen, sowie zur Kommunikation im Vertretungsfall, bei Fallübergabe oder zur Information der Vorgesetzten, sowie als fachliche Grundlage für die Antragstellung vor Gericht. Er wird im Rahmen des Prozesses ggf. mehrfach eingesetzt. |
Einsatz des
Berliner Kinderschutz-bogens |
Der Kinderschutzbogen wird bei jeder Meldung und jedem Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung im Neufall und in laufenden Fällen eingesetzt, wenn der 1.Check nach erfolgter Prüfung ergeben hat, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht ausgeschlossen werden kann. Er ist verpflichtend bei allen Altersgruppen und für jedes gefährdete Kind einzusetzen. |
Aufbau des Berliner Kinderschutz-bogens und inhaltliche Gliederung |
Die beiden Seiten helfen, sich einen Überblick über das Familiensystem und die Stellung des Kindes/der Kinder in der Lebensgemeinschaft zu verschaffen
Aufgegliedert in 4 Bereiche (analog zu den Vorsorgeuntersuchungen im U-Heft) wird die körperliche, psychische, kognitive Erscheinung und das Sozialverhalten erfasst. Die aufgeführten Kriterien sind altersspezifisch unterschieden.
Strukturiert die beobachtete Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson in zwei Grobrubriken: negativ oder positiv.
Hier wird die Grundversorgung des Kindes erfasst und die nach dem 1. Kontakt zur Familie sowie in Zusammenhang mit den Wiedervorlageterminen vorzunehmende Sicherheitseinschätzung. Diese hat zum Ziel, frühzeitig Risiken deutlich zu machen und bis zum nächsten Kontakt der Fachkraft mit der Familie ggf. Sicherheitsmaßnahmen für das Kind festzulegen. Hilfe- und Schutzkonzept Hier werden die ggf. erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen bis zum nächsten Kontakt aufgeführt.
Die aufgelisteten Risikofaktoren sind empirisch belegt und für eine anhaltende bzw. hohe Gefährdung einer Misshandlung oder Vernachlässigung relevant.
Um Ansatzpunkte für eine Abwendung der Kindeswohlgefährdung fachlich einschätzen zu können, werden hier Ressourcen aufgelistet und die Veränderungsbereitschaft und –fähigkeit eingeschätzt.
Die auf den Vorseiten gesammelten Daten werden hier übertragen und das Blatt dient der fachlichen Gesamteinschätzung der Kindeswohlgefährdung. Den Gefährdungslagen sind die Definitionen aus dem Netzwerk Kinderschutz hinterlegt. In der Begründung der Gefährdungseinschätzung sollen die Fragen nach der Bereitschaft und Fähigkeit der Eltern zur Abwendung der Gefährdungslage, sowie das Alter des Kindes, die Schwere, Dauer und Nachhaltigkeit der Gefährdung besonders beachtet werden.
Hier wird nach der Gesamteinschätzung eine Risikoeinschätzung gem. AV-Kinderschutz vorgenommen und die Einschätzung inhaltlich begründet.
Darstellung der nächsten Verfahrensschritte. Bezogen auf die Gefährdungseinschätzung werden Handlungsoptionen vorgeschlagen. Der/die fallverantwortliche/r Mitarbeiter/in, die 2. Fachkraft und die Leitung der Organisationseinheit unterschreiben. Die Kenntnisnahme beinhaltet die Zustimmung und die geteilte Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen. |
Datenschutz | Bei der Datenerhebung, Datenspeicherung und -nutzung sind die datenschutzrechtlichen Bestimmungen, insbesondere die §§ 61ff SGB VIII und der besondere Datenschutz des § 65 SGBVIII zu beachten. |
Daten | Mit dem Kinderschutzbogen werden die Daten erhoben, welche die Fachkraft für die Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung benötigt. Darüber hinaus wird anhand der aufgeführten Kriterien deutlich, was die Fachkraft noch nicht weiß und z.B. in Folgebewertungen noch erheben sollte.
Insgesamt soll der Kinderschutzbogen jedoch nicht dazu verleiten, eine vollständige oder perfekte Datensammlung zu schaffen. Vielmehr geht es auch um ein höchstmögliches Maß an Sicherheit für die fallverantwortliche Fachkraft in der Beurteilung der Kindeswohlgefährdung im Kontext von „Helfen mit Risiko“ Auf jeder Seite des Kinderschutzbogens ist ein Datum vorgesehen, ebenso die Rubrik von wem die jeweilige Information stammt. Im Einzelfall wird es möglich und sinnvoll sein, den Kinderschutzbogen bzw. einzelne Themenbereiche gemeinsam mit der Familie auszufüllen. |
Qualitäts-sicherung im Kinderschutz | Der Kinderschutzbogen ist Bestandteil der Kinderschutz-Standards im Jugendamt und findet in diesem Rahmen seine Anwendung.
Der Einsatz dieses Diagnostikinstrumentes inkl. seines Hintergrundmoduls, der sogenannten „Orientierungskataloge“ sowie weiterer hinterlegter fachlicher Definitionen erfordert zwingend die Sicherstellung einer kontinuierlichen Qualifizierung und Praxisberatung der Jugendamtsfachkräfte insbesondere des RSD. Qualitätssicherung und –entwicklung des Instrumentes sowie Evaluationen sind durch verantwortliche Gremien sicherzustellen |