Belastungen erkennen und handeln – Resilienz fördern bei Kindern und Jugendlichen 

Dieses Skript wurde im Rahmen des Projekts „Gemeinsam handeln – Geflüchtete Kinder und Jugendlichen stärken“ herausgeben von Save the Children Deutschland e.V. 

Text: Lena Grabowski

Mehr Informationen zum Projekt: 

https://www.savethechildren.de//projekt/gemeinsam-handeln

2023 

© Lena Grabowski / Save the Children e.V.

 

1. Resilienzforschung

1.1 Kauai-Studie

Die Resilienzforschung hat ihren Ursprung in einer 40-jährigen Langzeitstudie über Kinder, geleitet von der amerikanischen Entwicklungspsychologin Emmy Werner und ihrer Kollegin Ruth Smith. Sie haben die psychische, physische und kognitive Entwicklung von 698 Kindern untersucht, die auf der hawaiianischen Insel Kauai im Jahr 1955 geboren wurden. 

Nach der Geburt sowie im Alter von einem, zwei, zehn, 18, 32 und 40 Jahren wurde das Verhalten der Teilnehmenden beobachtet und mit Interviews von Pädiater*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Krankenpfleger*innen und Lehrer*innen ergänzt. Auch Persönlichkeits- und Leistungstests sowie Informationen von Gesundheits- und Sozialdiensten, Familiengerichten und Polizeibehörden flossen in die Studie ein (vgl. Werner, 2008). So konnten Langzeitfolgen von prä- und perinatalen Risikobedingungen sowie die Auswirkungen ungünstiger Lebensumstände in der frühen Kindheit auf die Entwicklung der Kinder analysiert werden.

Die Teilnehmenden waren vorrangig Kinder in schwierigen Lebensumständen. Sie waren in Armut aufgewachsen, bei psychisch erkrankten Erziehungsberechtigten, erlebten Gewalt, Vernachlässigung oder waren sehr früh mit Alkohol- oder Drogenmissbrauch konfrontiert. Faktoren wie diese können die Entwicklung bei vielen Kindern und Jugendlichen beeinflussen. 

Die sogenannte Kauai-Studie „Vulnerable but invincible“ wurde 1982 veröffentlicht. Die Forscher*innen haben mit ihrer Untersuchung erstmals ein Gegenstück zur Vulnerabilität beschrieben: psychische Widerstandfähigkeit oder auch Resilienz. Sie zeigt, dass Menschen sogenannte protektive Faktoren in sich tragen oder in ihrer sozialen Umwelt vorfinden, die ihnen in schwierigen Lebenssituationen offensichtlich helfen können, besser mit diesen umzugehen (vgl. Werner, Smith 1982, vgl. Caner, 2017). 

Die Resilienzforschung versucht seither, „ein besseres Verständnis darüber zu erlangen, welche Bedingungen die psychische Gesundheit und Stabilität von Kindern und Jugendlichen, die besonderen Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind, erhalten und fördern“ (Werner, 2008).

In Emmy Werners Studie zeigte ein Drittel der Proband*innen ein resilientes Verhalten. Sie entwickelten eine eher optimistische Lebenseinstellung, konnten im Laufe ihres Lebens stabile Beziehungen führen und hatten eine Arbeit gefunden, der sie gerne nachgingen. Mit dem 40. Lebensjahr konnten bei ihnen, im Vergleich mit den anderen Proband*innen, weniger chronische Gesundheitsprobleme sowie geringere Scheidungs- und Todesraten festgestellt werden (vgl. Corina Wustmann, 2016). 

Ihre protektiven Faktoren waren zum Beispiel eine stabile Bezugsperson in Kindheit und Jugend sowie ausgeprägte Sozialkompetenzen, die im Verlauf ihres Lebens einen stabilen Zusammenhalt in den von ihnen gegründeten Familie bewirkten. Zudem konnten sie auf eine gute Schulbildung zurückblicken und hatten positive Selbstwirksamkeitsstrategien entwickelt. 

Auf Grundlage dieser Beobachtungen leitete die Studie folgende Erkenntnis ab: Es existieren Schlüsselfaktoren, die die Resilienz bei Kindern und Jugendlichen stärken, ganz unabhängig davon, wie herausfordernd die Rahmenbedingungen sind, in denen sie aufwachsen. 

Diese Schlüsselfaktoren sind: 

  1. Eine emotionale Bindung, also die Bindung an mindestens eine Bezugsperson, die das Vertrauen und die Selbstständigkeit des Kindes stärkt. Diese Personen können aus der Familien stammen, jedoch auch aus dem näheren sozialen Umfeld. Dazu zählen u.a. Nachbar*innen, Freund*innen und Pädagog*innen. Die Bereitschaft und Fähigkeit des Kindes, sich neben den primären Bindungspersonen (Eltern) alternative Bindungs- und Pflegepersonen zu suchen, ist dabei von höchster Bedeutung. 
  2. Resiliente Kinder weisen eine durchschnittliche Intelligenz und ein positives Temperament auf, in dem bestimmte Kernkompetenzen wie Selbstbewusstsein, ein Empfinden von Selbstwirksamkeit, Kreativität, eine allgemeine Kontaktfähigkeit und die Regulation von Gefühlen möglich sind. Die Kombination dieser Kompetenzen erzeugt psychische Robustheit. 
  3. Gesellschaftliche Unterstützung ermöglicht Kindern das Erlernen haltgebender Werte sowie die Erfahrung grundlegender Wertschätzung, die ihnen Stabilität vermittelt und somit ihre Resilienz stärkt. (Vgl. Wustmann 2011)

1.2 Bielefelder Invulnerabilitätsstudie

Gegenstand der Bielefelder Invulnerabilitätsstudie war die Resilienz von Jugendlichen mit einem hohen Entwicklungsrisiko. Dabei wurden Schutzfaktoren außerhalb der Familie untersucht.

146 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren, die vorrangig in Heimen aufgewachsen waren, nahmen an der Studie teil. Anhand von Informationen aus Fallkonferenzen, Berichten der Erzieher*innen, Selbsteinschätzungen und Risikoindex wurden die Jugendlichen in zwei Gruppen eingeteilt.

Gruppe 1: weitestgehend resiliente Entwicklung

Gruppe 2: teilweise starke Verhaltensauffälligkeiten

(vgl. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2014, vgl. Lösel, Bliesener & Köferl, 1990).) 

Nach zwei Jahren konnten bei den Proband*innen der Gruppe 1 einige protektive Effekte festgestellt werden. Diese Jugendlichen mit einem resilienten Verhalten reagierten im Gegensatz zur anderen Probandengruppe in herausfordernden Situationen weniger impulsiv; sie verfügten über realistischere Zukunftsperspektiven; sie hatten ein stabileres Selbstvertrauen und wiesen ein weniger vermeidendes Bewältigungsverhalten auf; sie waren insgesamt lern- und leistungsmotivierter und erzielten bessere schulische Leistungen. 

Als protektive Faktoren wurden festgestellt und benannt (vgl. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2014): 

  1. Die Proband*innen hatten mindestens eine feste, bindungssichere Bezugsperson außerhalb ihrer Familie. Sie erlebten eine allgemeine soziale Unterstützung und berichteten von einer guten Beziehung zur Schule. Die Atmosphäre in den Heimen wurde von ihnen als weitestgehend harmonisch und werteorientiert eingestuft 
  2. Ein der Entwicklung förderlicher Effekt ging offensichtlich besonders von einem Erziehungsstil aus, der sich durch eine klare und hohe Strukturiertheit, eine Werteorientierung, eine ausgeprägte Empathie sowie durch gutes Monitoring auszeichnete (vgl. Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2014).

Somit unterstützt die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie die Ergebnisse von Emmy Werner und Ruth Smiths Kauai-Studie und unterstreicht, dass es protektive Faktoren gibt, die der Resilienz zuträglich sind (vgl. Lösel, Bliesener & Köferl, 1990).

2. Begriffsklärung 

2.1 Resilienz

Der Begriff Resilienz leitet sich von dem lateinischen Wort resilere (deutsch: abprallen, zurückfedern) und dem englischen Wort resilience (deutsch: Widerstandsfähigkeit, Elastizität, Spannkraft) ab. 

Die Resilienz wird als eine „psychische Widerstandsfähigkeit von uns Menschen gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“ definiert. Sie ist nicht angeboren, sondern entwickelt sich und passt sich im Laufe des Lebens an. Dabei ist entscheidend, wie ein Mensch Stress- und Risikosituationen erlebt und bewältigt und welche Ressourcen und Schutzfaktoren ihm dabei zur Verfügung stehen. (Wustmann, 2011)

„Wenn ein Kind beispielsweise eine positive Entwicklung durchlebt, ist dies nicht gleich ein Ausdruck von Resilienz. Von Resilienz wird erst dann gesprochen, wenn sich das Kind positiv entwickelt, obwohl es Risiken und schwierigen Umständen ausgesetzt ist. Das entscheidende Kriterium für die Definition von Resilienz ist demnach, dass eine „signifikante Bedrohung der kindlichen Entwicklung vorliegen [muss].“ (Wustmann, 2011)

Der Resilienz gegenüber steht die Vulnerabilität. Diese wird als Verletzlichkeit, Verwundbarkeit oder Empfindlichkeit eines Menschen gegenüber äußeren Einflussfaktoren beschrieben. Dabei ist entscheidend, wie ein Mensch Stress- und Risikosituationen erlebt und bewältigt, und welche Ressourcen und Schutzfaktoren ihm dabei zur Verfügung stehen.

Durchlebt ein Kind beispielsweise eine positive Entwicklung, ist dies nicht ein Ausdruck von Resilienz. Von Resilienz wird erst dann gesprochen, wenn sich ein Kind positiv entwickelt, obwohl es Risiken und schwierigen Situationen ausgesetzt ist. Für die Definition von Resilienz ist ein wesentliches Kriterium, dass eine Risikolage oder eine starke Bedrohung der kindlichen Entwicklung vorliegen muss.

Die Entwicklung von Resilienz ist somit an zwei wesentliche Merkmale geknüpft:

  • Eine immense Bedrohung
  • Eine erfolgreiche Bewältigung der widrigen Lebensumstände

Auch die oben erwähnte Kauai-Studie legt die Erkenntnis nah, dass sich menschliche Resilienz insbesondere durch die Auseinandersetzung mit einer Krise entwickeln lässt. Sie zeigt zudem, dass junge Menschen, die erheblichen Belastungen ausgesetzt sind, oftmals besondere Leistungen erbringen. Im Vergleich mit Kindern einer unbelasteten Kontrollgruppe (in ökonomisch sicheren und stabilen Lebenswelten aufgewachsen) erzielen sie im Sinne der Lebensbewältigung sogar bessere Ergebnisse.

Ein weiteres Charakteristikum von Resilienz ist die Variabilität. Ein Mensch, der einmal ein resilientes Verhalten aufweist, wird in neuen herausfordernden Situationen nicht zwangsläufig genauso handeln, sondern vermutlich neue Strategien entwickeln. Somit wird nicht von einer konstanten oder stabilen Resilienz gesprochen, sondern von einem Resilienzkonstrukt, dass im Verlauf der Entwicklung variieren kann.“ Dies wird als „situations- und lebensbereichsspezifische Resilienz“ bezeichnet. Resilienz steht also – ist sie einmal erworben – nicht dauerhaft zur Verfügung. Sie entwickelt sich kontextabhängig stetig weiter. (vgl. Wustmann, 2011)

2.2 Krisen

Die Resilienzforschung, die sich mit den aus der Verhaltenspsychologie bekannten Stress-Coping-Strategien auseinandersetzt, unterscheidet krisenhafte Ereignisse / Krisen in normativ und nicht normativ. 

Normativ sind hierbei Veränderungen wie die Geburt eines Geschwisterkindes, ein geplanter Umzug oder ein Wechsel vom Kindergarten zur Schule. Eine nicht normative Krise trifft einen Menschen hingegen unvorbereitet und plötzlich, wie beispielsweise der Verlust eines Angehörigen durch einen tödlichen Unfall oder eine andere augenblicklich massiv einwirkende Veränderung. 

Bei normativen Krisen entwickeln Menschen Strategien, die ihnen helfen, die Lebenssituation zu bewältigen und sich neu anzupassen. Auf diese Copingstrategien kann im Regelfall auch in nicht normativen Krisen zurückgegriffen werden. Somit bilden normative Krisen eine Voraussetzung für den Umgang mit nicht normativen Krisen.

Generell weisen Krisen folgende charakteristische Eigenschaften auf:

  • Sie stellen Wendepunkte im Leben eines Menschen dar.
  • Die Dringlichkeit, auf die Situation zu reagieren, ist hoch. Dabei können Gefühle wie Angst sowie weitere Stresssymptome entstehen.
  • Ziele und Werte eines Menschen können in einer Krise bedroht werden.
  • Weitreichende Konsequenzen einer Krise sind meist nicht absehbar.
  • Krisen vermitteln Menschen häufig das Gefühl, keine Kontrolle über sich und ihr/das Leben zu haben.
  • Oftmals stehen während einer Krise wichtige Informationen nicht zur Verfügung, um die Zusammenhänge besser verstehen und einordnen zu können

 (vgl. Robinson, 1968, Welter-Enderlin, 2006).

2.3 Risikofaktoren

Risikofaktoren werden unterschieden in ( vgl. Wustmann, 2011):

  • akute Faktoren, die akute Risiken beschreiben, beispielsweise ein Unfall
  • kontinuierliche Faktoren, die ein dauerhaftes Risiko beschreiben, beispielsweise Armut.

Des Weiteren unterscheiden wir soziale und biologische Risikofaktoren.

Mögliche soziale Risikofaktoren  ( vgl. Wustmann, 2011):

  • Aversives Wohnumfeld (beispielsweise Wohngegenden mit hohem Kriminalitätsanteil) 
  • Niedriger sozioökonomischer Status; chronische Armut Elterliche Trennung und Scheidung 
  • Sehr junge Elternschaft (vor dem 18. Lebensjahr) 
  • Unerwünschte Schwangerschaft 
  • Abwesenheit eines Elternteils; alleinerziehender Elternteil 
  • Erziehungsdefizite/ungünstige Erziehungspraktiken der Eltern (z. B. zurückweisendes oder inkonsistentes Erziehungsverhalten, Uneinigkeit der Eltern in Erziehungs-methoden, körperliche Strafen, zu geringe Beaufsichtigung) 
  • Niedriges Bildungsniveau der Eltern Wiederheirat eines Elternteils; häufig wechselnde Partnerschaften der Eltern 
  • Psychische Störungen oder Erkrankungen eines bzw. beider Elternteile Arbeitslosigkeit der Eltern 
  • Desinteresse/Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind, mangelnde Feinfühligkeit und Responsivität Chronische familiäre Disharmonie 
  • Alkohol-/Drogenmissbrauch der Eltern 
  • Kriminalität der Eltern 
  • Soziale Isolation der Familie 
  • Mehr als vier Geschwister 
  • Verlust eines Geschwisterkindes oder einer engen Freundschaft 
  • Geschwister mit einer Behinderung, Lern- oder Verhaltensstörung 
  • Häufige Umzüge; häufiger Schulwechsel 
  • Migrationshintergrund; Diskriminierung; Rassismuserfahrungen
  • Mobbing/Ablehnung (durch Gleichaltrige) Adoption/Pflegefamilie 
  • Außerfamiliäre Unterbringung 
  • Wohnungslosigkeit

Mögliche biologische Risikofaktoren ( vgl. Wustmann, 2011)

  • Frühgeburt und Geburtskomplikationen 
  • Angeborene geringe Fähigkeiten zur Selbstregulation Physiologische Erkrankungen; neurologische Defizite; chronische Erkrankungen des Säuglings
  • Geringe kognitive Fertigkeiten wie verminderte Intelligenz; Defizite in der Wahrnehmung oder Informationsverarbeitung 
  • Temperamentsmerkmale wie hohe Ablenkbarkeit und frühes impulsives Verhalten

Eine extreme Form der Risikofaktoren stellen „traumatische Erlebnisse“ dar.

2.4.Traumatische Erlebnisse

Traumatische Erlebnisse könnten sein (vgl. Wustmann, 2011) :

  • Natur-, technische oder durch Menschen verursachte Katastrophen (Erdbeben, Vulkanausbruch, Flugzeugabsturz, Hochwasser, Schiffsunglück, Brände, Reaktorunfall, Kriegs-/Terrorerlebnisse, politische Gewalt, Verfolgung, Vertreibung, Flucht o. Ä.)
  • Gewalttaten (direkte Gewalterfahrung, wie z. B. körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung, Kindesentführung, Geiselnahme, Raubüberfall oder seelische Gewalt) 
  • Beobachtete Gewalterlebnisse (indirekte Gewalterfahrung, z. B. Beobachtung von Verletzung, Tötung oder Folter von nahen Bezugspersonen, Gewalt in Medien) 
  • Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit und belastende medizinische Maßnahmen 
  • Tod oder schwere Erkrankung eines bzw. beider Elternteile 
  • Schwere (Verkehrs-)Unfälle 

 

3. Trauma und Traumasensibilität 

Kinder und Jugendliche haben oft vor oder während der Flucht dramatische Erfahrungen gemacht. Nicht selten können weitere herausfordernde und auch überwältigende Ereignisse im Aufnahmeland dazukommen. 

Das Wort Trauma stammt aus dem Altgriechischen. Es bedeutet „Wunde“ oder „Verletzung“. Der Begriff wird in der Medizin verwendet und steht für körperliche Verletzungen. Aber der Begriff Trauma bzw. Traumatisierung ist nicht nur für den klinischen Bereich, sondern mittlerweile auch in der psychosozialen Arbeit relevant. 

In der Psychologie werden seelische Verletzungen unter der Bezeichnung Psychotraumata subsumiert. Insbesondere durch Medien bekannt geworden, hat sich der Begriff Traumatisierung im allgemeinen Sprachgebrauch bereits eingebürgert, sollte jedoch sensibel und nur auf Basis eines soliden Fachwissens verwendet werden.

Nach den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und in der ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health) ist Trauma definiert als eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden“ (ICD 10, (WHO) 2018).

In Abgrenzung zu einer Krise oder einem krisenhaften Ereignis ist ein als traumatisch erlebtes Ereignis nicht mit den vorherigen Lebenserfahrungen vereinbar. Bewährte Bewältigungsstrategien sind der Aufgabe nicht gewachsen. (vgl. Wustmann, 2011)

Der Fachbereich Psychotraumatologie ist sehr umfassend. Daher werden im Folgenden nur einige Kriterien und Begriffe erklärt, die einem grundlegenden traumasensiblen Verständnis für geflüchtete und andere belastete Kinder und Jugendliche dienen. Zunächst einmal wird unterschieden zwischen einem traumatischen Ereignis und einer Trauma-Reaktion. 

3.1 Trauma-Ereignis

Ein Trauma tritt als ein Ereignis oder in Form mehrerer Ereignisse auf, bei denen die Bewältigungs- und Anpassungsstrategien eines Menschen überfordert werden. 

Man unterscheidet zwei Traumatypen, mit jeweils zwei weiteren Unterdifferenzierungen: 

  • apersonal/akzidentell = bedingt durch Umweltfaktoren oder „höhere Gewalt/Mächte“ (nicht durch Menschen bedingt)
  • interpersonal/man-made = durch andere Personen bedingt
  1. Trauma-Typ I: Monotrauma: ein kurzes, einmaliges und plötzliches Trauma
  • apersonal/akzidentiell: Unfälle, zeitlich begrenzte Naturkatastrophen 
  • interpersonal/man-made: Einbruch, Überfall, Vergewaltigung
  1. Trauma-Typ II: Erlebnisse, die sich über eine längere Zeitspanne erstrecken oder sich wiederholen
  • apersonal/akzidentiell: langanhaltende Naturkatastrophen (z. B. Flutkatastrophen, Vulkanausbrüche, Waldbrände, Hitze/Dürren)
  • interpersonal/man-made: Kriege, Vernachlässigung, sexualisierte Gewalt, physische Gewalt, psychische Gewalt, Inhaftierung/Geiselhaft, Folter

3.2 Trauma-Reaktion

Ein überwältigendes Ereignis führt dann zu einer Reaktion, wenn eine innere Dynamik entsteht, „die das Gehirn buchstäblich „in die Klemme bringt“ und es dazu nötigt, auf eine absolut besondere Weise mit diesem Ereignis umzugehen.“ (Huber, 2012). Diese Klemme wird in der Psychotraumatologie als Traumatische Zange bezeichnet.

Sobald das Gehirn eine Situation als existentiell bedrohlich bewertet, kommt es zur Veränderung des neurophysiologischen Gleichgewichts. Oftmals entstehen dabei erhöhte Atem- und Herzfrequenz, steigender Blutdruck, Kälte- oder Hitzeempfindungen, Zittern, trockene Schleimhäute oder die Umwelt wird verändert wahrgenommen.

Dies hat vor allem mit der erhöhten Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin, CRH (Corticotropin-releasing-Hormon), ACTH (Adrenocorticotropin) und Kortisol zu tun. Hierbei handelt es sich um Botenstoffe, die unserem Körper helfen, adäquat auf das bedrohliche Ereignis zu reagieren. Diese Botenstoffe sorgten dafür, dass wir unsere Muskeln schnell anspannen und uns auf einen Kampf oder auch eine schnelle Flucht vorbereiten können. 

Insgesamt stehen dem Menschen in lebensbedrohlichen Stresssituationen vier stammhirngesteuerte Reaktionsmöglichkeiten zur Überlebenssicherung zur Verfügung. Nach dem Traumapsychologen Pete Walker werden sie in die „4 Fs“ eingeteilt:

  • Fight = Kampf, Angriff und Abwehr
  • Flight = Flucht 
  • Freeze = Einfrieren, Erstarren
  • Fawn Response = Unterwerfung 

Eine Situation kann durch Angriff, Abwehr oder eine Flucht bewältigt werden. Hat die Person jedoch keine Chance, mit diesen Strategien die Situation zu bewältigen, wird sie – stammhingesteuert – wahrscheinlich erstarren oder sich unterwerfen. Denn: Kann die Person sich weder erfolgreich wehren, noch fliehen, kann daraus eine Lähmung vieler innerer Funktionen resultieren. Aus dem Tierreich ist das als TotstellreflexFreeze und einer Form der Unterwerfung – Fawn Response – bekannt. 

In dieser Situation verändert sich die Wahrnehmung im Gehirn drastisch und man distanziert sich von dem äußeren Geschehen. Die betroffene Person kann sogar schmerzunempfindlich, gefühlslos und am Erleben unbeteiligt werden. Diese starke Form der Distanzierung hilft, das erschütternde Ereignis „zu überleben“. 

Fachsprachlich wird dies in der Psychotraumatologie als Depersonalisierung bezeichnet. Dabei werden starke emotionale und körperliche Schmerzen, Gefühle wie Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Ohnmacht, Trauer und Wut, die durch das traumatische Erlebnis entstehen, abgespalten. Die Person dissoziiert von dem Erleben, und die Wahrnehmung sowie jedes Detail des Ereignisses werden in viele einzelne Teile zerlegt – vergleichbar mit einem zersplitterten Spiegel – und unverbunden im Gedächtnis abgespeichert. Anders wäre das Erlebnis nicht auszuhalten. Die Umgebung und die Ereignisse können zudem als nicht real empfunden werden, was als Derealisation bezeichnet wird. 

Das Gehirn kann zudem keine räumlich-zeitliche Einordnung des Ereignisses/der Ereignisse vornehmen, was bedeutet: Selbst wenn die traumatische Situation bereits vorüber ist, kann sich die Person noch immer in einem angespannten, hocherregten Zustand befinden, ohne jedoch konkrete Erinnerungen an die überwältigende Situation zu haben. (Bessel van der Kolk, 2015)

3.3 Kinder und Jugendliche traumasensibel begleiten

Wie ein Mensch ein Trauma – Ereignis übersteht, hängt von vielem ab. Verfügt jemand über Lebenserfahrung, hat ein grundsätzliches Vertrauen in sich, stehen psychische Ressourcen zur Verfügung und sind Schutzfaktoren (siehe Kapitel 4) und Ressourcen im Umfeld vorhanden, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein traumatisches Ereignis gut zu überstehen oder dieses mithilfe einer Therapie rückwirkend zu integrieren.

Ein Kind – das gegebenenfalls mit komplexen Risikofaktoren zu kämpfen hat – könnte weniger von diesen Ressourcen und Schutzfaktoren zur Verfügung haben. 

Darum benötigen Kinder und Jugendliche spezifische Hilfeangebote. Sie verfügen über weniger Lebenserfahrung und entwickeln Anpassungs- und Bewältigungsstrategien primär unbewusst und in Abhängigkeit zur Umwelt, an der sie weiterhin partizipieren möchten. Sie brauchen eine stabile Bindung und Beziehung zu primären Bindungspersonen (zumeist sind dies die Eltern) und sekundären Bezugspersonen, die ihr Sicherheitsempfinden stärken können. Finden überwältigende Ereignisse statt, fühlen sie sich in außergewöhnlichem Maße hilflos, ausgeliefert und verunsichert, da sie ohnehin noch stark von ihrer Umwelt abhängig sind.

Des Weiteren fehlen insbesondere jüngeren Kindern noch viele Erfahrungen und damit auch Bewältigungsstrategien. Während eines als traumatisch empfundenen Ereignisses sind sie in der Regel nicht in der Lage, zu reagieren. Musste beispielsweise ein Kind miterleben, wie einem Elternteil auf der Flucht etwas Schlimmes zugestoßen ist, empfindet es möglicherweise noch viele Jahre nach dem traumatischen Erlebnis Schuldgefühle, weil es „nicht handeln und helfen“ konnte. Das kann die Verarbeitung eines Traumas erheblich erschweren. 

Sind Kinder während einer traumatischen Erfahrung besonders jung, fehlt ihnen sogar die Sprache oder die kognitive Fähigkeit, die traumatischen Erlebnisse auszudrücken und nachträglich einordnen zu können. Besonders schwierig ist es für Kinder, die Schlimmes weit vor dem Spracherwerb erlebt haben. Das traumatische Erlebnis wird dann auf einer rein sinnlich-körperlichen Ebene empfunden und wahrgenommen. (vgl. Bessel van der Kolk, 2015)

Komplexe Belastungen können die Entwicklung eines Kindes stark beeinflussen. Typische Anzeichen bei Kindern können nach einem unverarbeiteten traumatischen Ereignis folgende sein: 

  • Wiedererleben: wiederholtes Nachspielen der traumatischen Situation, Reinszenierungen 
  • Hypererregung: aggressives Verhalten, somatische Beschwerden (Bauch- und Kopfschmerzen), Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhte Schreckhaftigkeit 
  • Vermeidung: weniger direktes Vermeidungsverhalten, aber vermehrte existenzielle Ängste, Angst vorm Dunkeln, anklammerndes Verhalten, regressives Verhalten
  • Gefühle: einer verkürzten Zukunft, massive Erschütterung des Selbst- und Weltbildes

Um eine deutliche Abgrenzung zu anderen Störungen herzustellen, ist es wichtig, dass Traumafolgestörungen insbesondere dadurch gekennzeichnet sind: sie sind eine direkte Reaktion auf ein traumatisches Ereignis hin, die ohne das Ereignis nicht entstehen würden.“ (Landolt, 2004)

3.4 Kinder und Jugendliche im Kontext von Fluchterfahrung 

Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung, die zudem in Risikolagen aufgewachsen sind, benötigen eine besondere traumasensible Unterstützung. 

Sie sind auf Erwachsene in ihrem Umfeld angewiesen, die sie unterstützen, aufmerksam betreuen und entsprechend fördern. Normalerweise sollten Eltern die primären und wichtigsten Bindungs- und Bezugspersonen sein. Denn gerade sie haben einen besonderen Einfluss auf ihr Kind und dessen soziale, emotionale und kognitive Entwicklung. Doch oft sind auch die Eltern selbst belastet. Die Flucht hat auch ihnen viel abverlangt – und mitunter sind sie selbst traumatisiert, so dass es vielen schwerfällt, ihre Kinder angemessen in ihrer Entwicklung zu begleiten. 

Darüber hinaus beschäftigen auch Eltern im Aufnahmeland viel Neues: eine fremde Kultur, Sprachbarrieren, der Aufenthaltsstatus bzw. die Angst vor einer Abschiebung, Diskriminierung, Ausgrenzung und Rassismus. Diese Belastung kann für Eltern so groß werden, dass sie als stabile, stützende Bezugspersonen für ihre Kinder nicht vollumfänglich zur Verfügung stehen. 

Diese Funktion kann nur bedingt durch schulische und andere Institutionen übernommen werden. Sie alle haben als Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen eine gesellschaftliche Teilhabe sowie Integration durch Bildung zu ermöglichen. Die Bildungsinstitution stellt demnach einen besonders entscheidenden Schlüssel (=Resilienzfaktor) für eine gelingende Integration dar. 

Eine sichere, vertrauensvolle Beziehung zwischen Schüler*innen und pädagogischen Fachkräften sowie Ehrenamtlichen kann viel bewirken. Sie stellt somit einen entscheidenden Schutzfaktor für die resiliente Entwicklung der Kinder und Jugendlichen dar. Denn Kinder und Jugendliche können unter besonderen Rahmenbedingungen und bei guter Unterstützung, trotz widriger Lebensumstände und Traumata, zu gesunden und starken Persönlichkeiten heranwachsen und auch erfolgreich in der Schule sein (vgl. Caner,  2017) . 

 

4. Schutzfaktoren, Resilienzfaktoren und Ressourcen

Sowohl auf psychologischer als auch auf neurologischer und sogar molekularbiologischer Ebene wird nach Schutzfaktoren, Puffermechanismen und Reparaturgenen von Menschen geforscht.

Die Kauai-Studie hat dabei zu ersten, wichtigen Erkenntnissen in der Resilienzforschung geführt. Obwohl die Kinder in dieser Langzeitstudie akuten und/oder kontinuierlichen Risiken ausgesetzt waren, entwickelte sich ein Drittel dieser Kinder zu zuversichtlichen, leistungsfähigen und fürsorglichen Erwachsenen (vgl. Werner, 2008)

Die Hoffnung besteht seitdem darin, Entwicklungsverläufe von Kindern mithilfe von Schutzfaktoren besser prognostizieren und daraus Präventionsmaßnahmen für die Resilienzförderung ableiten zu können. 

Als Schutzfaktoren werden Merkmale von Personen uns deren Umgebung bezeichnet, die die negative Wirkung der Risikofaktoren senken. Im besten Fall kann er sogar positive Effekte bewirken. Sobald dieser Schutzfaktor jedoch wegbricht, kann der Risikofaktor wieder seine volle Ausprägung erlangen. Hier spricht man von einer Pufferwirkung der Schutzfaktoren.

In der Resilienzforschung werden Schutzfaktoren in drei Gruppen aufgeteilt: 

  1. personal 
  2. familiär 
  3. sozial

Diese Bereiche sollten nicht einzeln analysiert oder isoliert voneinander betrachtet werden. Sie befinden sich in einer gegenseitigen Wechselwirkung (vgl. Wustmann, 2011).

4.1 Personale Schutz- und Resilienzfaktoren

Diese könnten sein ( vgl. Wustmann 2011):

  • positive Temperamentseigenschaften, die eher soziale Unterstützung und Aufmerksamkeit bei den Betreuungspersonen hervorrufen (flexibel, aktiv, offen) 
  • Optimistische Lebenseinstellung 
  • Höhere intellektuelle Fähigkeiten 
  • Erstgeborenes Kind (Resillienzforschung Mitteleuropa)
  • Weibliches Geschlecht (in der Kindheit) (Resilienzforschung Mitteleuropa)
  • Positives Selbstkonzept, Selbstvertrauen, hohes Selbstwertgefühl 
  • Problemlösungsfähigkeiten 
  • Selbstwirksamkeitsüberzeugungen 
  • Fähigkeit zur Selbstregulation 
  • Internale Kontrollüberzeugung 
  • Talente, Interessen und Hobbys 
  • Zielorientierung, Planungskompetenz 
  • Hohe Sozialkompetenz: Empathie, Kooperations- und Kontaktfähigkeit (verbunden mit guten Sprachfertigkeiten); soziale Perspektivenübernahme, Verantwortungs-übernahme; Humor 
  • Aktives und flexibles Bewältigungsverhalten (z. B. die Fähigkeit, soziale Unterstützung zu mobilisieren; Entspannungsfähigkeiten) 
  • Sicheres Bindungsverhalten (Explorationslust) 
  • Lernbegeisterung, schulisches Engagement 
  • Realistischer Attribuierungsstil 
  • Religiöser Glaube, Spiritualität (Zugehörigkeitsgefühl) 
  • Physische Gesundheitsressourcen  

4.2 Familiäre Schutz- und Resilienzfaktoren

Diese könnten sein ( vgl. Wustmann, 2011)

  • Autoritativer, demokratischer Erziehungsstil (emotional positives, unterstützendes und strukturierendes Erziehungsverhalten, Feingefühl und Responsivität) 
  • Stabiler Zusammenhalt und konstruktive Kommunikation in der Familie
  • Harmonische Paarbeziehung der Eltern 
  • Unterstützendes familiäres Netzwerk (Verwandtschaft, Freund*innen, Nachbarschaft) 
  • Mindestens eine stabile Bezugsperson, die Vertrauen und Autonomie fördert 
  • Hohes Bildungsniveau der Eltern 
  • Enge Geschwisterbindungen 
  • Altersangemessene Verpflichtungen des Kindes im Haushalt 
  • Hoher sozioökonomischer Status 

4.3 Soziale Schutz- und Resilienzfaktoren

Speziell im pädagogischen Umfeld ( vgl. Wustmann 2011):

  • Wertschätzendes Klima (Wärme, Respekt und Akzeptanz gegenüber dem Kind; hoher, zugleich den Fähigkeiten angemessener Leistungsstandard) 
  • Klare, transparente und konsistente Regeln und Strukturen
  • Positive Peerkontakte; positive Freundschaftsbeziehungen
  • Positive Verstärkung der Leistungen und Anstrengungsbereitschaft des Kindes
  • Zusammenarbeit mit den Eltern und anderen sozialen Institutionen 
  • Förderung von Resilienzfaktoren

Im weiteren sozialen Umfeld:

  • Kompetente und fürsorgliche Erwachsene außerhalb der Familie, die Vertrauen fördern, Sicherheit vermitteln und als positive Rollenmodelle dienen (z. B. Nachbar*innen, Freund*innen, Erzieher*innen, Lehrer*innen) 
  • Ressourcen auf kommunaler Ebene (Angebote zur Familienbildung, Beratungsstellen, Frühförderstellen, Gemeindearbeit etc.) 
  • Prosoziale Rollenmodelle, Normen und Werte in der Gesellschaft 
  • Gute Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Eltern

 

5. Der Einfluss von Lehrer*innen und pädagogischen Fachkräften auf die Entwicklung kindlicher Resilienz 

Schulen haben den gesellschaftlichen Auftrag, die Betreuung, Erziehung und Bildung eines jeden Kindes parallel zum Elternhaus zu begleiten. Damit soll sichergestellt werden, dass Kinder in ihrer emotionalen, sozialen, körperlichen sowie geistigen Entwicklung auch in Bildungsinstitutionen bestmöglich gefördert werden. Gleichzeitig kann eine gute schulische Bildung von Kindern besser gelingen, wenn sie dort Bindung und sichere Beziehungen erfahren. 

Jedes Kind benötigt mindestens eine Bezugsperson, der es vertrauen kann, von der es sich wertgeschätzt fühlt und durch die es Unterstützung erfährt. 

Vor allem Kinder mit Fluchtbiografien, die unbegleitet in Deutschland sind oder deren Eltern aufgrund schwerer biografischer Ereignisse ihrer Verantwortung nicht mehr in vollem Umfang gerecht werden können, benötigen andere erwachsene Bezugspersonen in ihrem Umfeld. Denn: Es ist Kindern nahezu unmöglich, komplexe Belastungen alleine zu bewältigen. Resilienzforschung und Bindungstheorien belegen, „dass mindestens eine sichere, stabile und unterstützende Beziehung zu einem Erwachsenen protektiv wirkt.“

Eine vertrauensvolle, als sicher empfundene Beziehung zwischen einer Lehrkraft, pädagogischen Fachkraft oder einer ehrenamtlich tätigen Person und einem Kind wirkt sich grundsätzlich positiv auf die Entwicklung des Kindes aus (vgl. Pianta et.al. 2008, vgl. Wustmann 2011). 

5.1 Schutzfaktor Beziehung 

Der Einstig in die Schule kann für Kinder mit Fluchterfahrungen besonders herausfordernd sein. Sie werden mit einer neuen Situation konfrontiert, die ihnen nicht vertraut ist. Viele von ihnen sind möglicherweise traumatisiert und können sich in einem vulnerablen Zustand befinden. Hinzu kommen Sprachbarrieren und damit Kommunikationsprobleme und Missverständnisse.

Das bedeutet, dass diese Kinder und Jugendlichen ganz besonders auf ein sensibilisiertes Gegenüber angewiesen sind. Eine achtsame Bezugsperson, die bereit ist, die nonverbalen Signale und Botschaften aufmerksam wahrzunehmen und zu lesen und darauf basierend den Kindern Zuwendung, Halt und Orientierung zu geben. 

Die Lehrer*innen und pädagogische Fachkräfte können eine solche Rolle – also die einer Bindungs-, Vertrauens- und Autoritätsperson – einnehmen. Solch eine tragfähige, gesunde Beziehung kann auch erfolgreiche Lernprozesse fördern. Denn sobald sich ein Kind in seiner Umgebung wohlfühlt, hat es die Voraussetzungen, um gut und nachhaltig lernen zu können. 

„Unter den am häufigsten angetroffenen positiven Rollenmodellen im Leben widerstandsfähiger Kinder, die erhebliche Entwicklungsrisiken im Leben überwinden, ist ein*e Lieblingslehrer*in. Alle widerstandsfähigen Jungen und Mädchen in der Kauai-Längsschnittstudie konnten auf mindestens eine*n Lehrer*in in der Grundschule, höheren Schule oder der Universität verweisen, die/der/dey sich für sie interessierte, sie herausforderte und motivierte (Diers, 2016)

Eine solche Beziehung aufzubauen, kann jedoch schwierig sein – insbesondere bei Kindern ohne positive Bindungserfahrungen, Gefühle wie Angst die Lage dominieren können. Angst schränkt nachweislich das natürliche, kindliche Explorationsverhalten, die Lernfähigkeit und die Neugierde ein. Angst lähmt das Gehirn und sämtliche natürlichen, psychodynamischen Prozesse. Darum soll in Bildungseinrichtungen mit belasteten Kindern und Jugendlichen durch Bindungsangebote vor allem Entängstigung priorisiert werden.

Weitere unterstützende Schutzfaktoren sind Kontakte mit Gleichaltrigen und freundschaftliche Beziehungen in der Schule. So können Kinder positive Erfahrungen mit diesem Ort verbinden. Im Zentrum sollte auch die Förderung von aktiver Verantwortungsübernahme, Einfühlungsvermögen, sozialer Perspektivübernahme und Selbstbestimmung stehen. Denn auch diese positiven Erfahrungen können das Gefühl der Selbstwirksamkeit stärken und den Heranwachsenden zu einem positiveren Selbstbild verhelfen.

Die Lehrer*innen-Kind-Beziehung unterteilt sich in zwei Bereiche: die unterrichtliche und die emotionale Unterstützung. Sich das bewusst zu machen, ist wichtig. Denn im schulischen Alltag belasteter Kinder und Jugendlicher geht es nicht nur darum zu unterrichten, sondern vor allem „den sozial-emotionalen Bereich zu fördern, weil […] so möglicherweise auch ein Beitrag zum Abbau der Bildungsungleichheit geleistet werden könnte“ (Miller, 2008).

5.2 Resilienzstärkung von Fachkräften

Auch die Widerstandsfähigkeit der Lehrkraft, der pädagogischen Fachkraft oder der ehrenamtlichen Person spielt bei der Förderung belasteter Kinder eine sehr wichtige Rolle. Ist beispielsweise die erwachsene Bezugsperson selbst stark überlastet, gestresst, vulnerabel, ausgebrannt oder Ähnliches, stehen dieser Person selbst kaum Ressourcen zur Verfügung. In einem solchen Fall ist es nicht ratsam, sich einer intensiven Begleitung und Unterstützung belasteter Kinder und Jugendlicher sowie ihrer Familien zuzuwenden. Die psychische und körperliche Gesundheit einer Fachkraft sollte Ausgangspunkt für eine gelingende, resilienzfördernde Unterstützung von Kindern darstellen.

Soziale und pädagogische Fachkräfte können unter anderem aufgrund ihrer beruflichen Anforderungen ebenfalls von Stress betroffen sein und sollten sich daher aktiv um ihre physische und psychische Gesundheit kümmern. Auch für sie ist es ratsam – insbesondere in herausfordernden beruflichen Situationen – auf schutz- und resilienzfördernde Faktoren zu achten und sich um den Aufbau und die Pflege von psychischen und sozialen Ressourcen zu bemühen. (vgl. Wustmann, 2011)

 

6. Kultursensible Begleitung 

Die Grundlage der Interkulturellen Pädagogik ist eine multikulturelle Gesellschaft, die auf zwei Grundsätzen basiert: 

  • auf dem Prinzip der Anerkennung, speziell auch von sprachlicher oder religiöser Vielfalt
  • auf dem Prinzip der Chancengleichheit oder auch Inklusion in die gesellschaftlichen Teilsysteme

Die interkulturelle, kultursensible Begleitung und Bildung basiert auf einer Haltung, die die Würde jedes Menschen gleichermaßen achtet. Ergänzt wird dies durch das Wissen um strukturelle Benachteiligung vieler Gruppen und eine allgemeine Sensibilität für die Perspektive anderer Menschen. 

Die Interkulturelle Pädagogik legt ihren Fokus zudem auf mehrsprachige und vielfältige Mitarbeitende. Dies ist relevant für eine bessere Berücksichtigung der Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, des Weiteren für eine bessere Verständigung im Miteinander sowie den Abbau von Zugangsbarrieren. Insbesondere in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen hat Kultursensibilität einen starken Sozialisationseffekt, weil Multikulturalität und Vielfalt als Normalität erfahrbar werden. (Vgl Auernheimer, 2016)

6.1 Der Gewinn der Vielfalt

Eine Grundlage für die kultursensible Begleitung von Kindern mit Fluchterfahrung ist der uneingeschränkte Respekt gegenüber Menschen – egal, wo sie geboren wurden. Mit dieser Haltung kann der interkulturelle Dialog angestoßen werden und gelingen. 

Im kultursensiblen pädagogischen Handeln können zwei Formen der Achtung unterschieden werden: 

  1. die Achtung vor der allgemeinen Menschenwürde 
  2. die Anerkennung kultureller Besonderheiten

„In der Auseinandersetzung zwischen Fremdem und Vertrautem ist der Perspektivwechsel, der die eigene Wahrnehmung erweitert und den Blickwinkel der anderen einzunehmen versucht, ein Schlüssel zu Selbstvertrauen und reflektierter Fremdwahrnehmung.“ 

Daher sollten sich alle, die Menschen kultursensibel begleiten wollen– insbesondere in pädagogischen und sozialen Berufen – mit folgenden Fragen beschäftigen:

  • Sind mir die kulturellen Sozialisationen und Lebenszusammenhänge meiner Mitmenschen wirklich bewusst?
  • Verfüge ich über Neugier, Offenheit und Verständnis für andere kulturelle Prägungen?
  • Tue ich bewusst etwas dafür, um anderen kulturellen Lebensformen und -orientierungen zu begegnen? 
  • Setze ich mich mit ihnen auseinander und wenn ja, wie? Gestehe ich mir eventuelle Ängste ein und halte ich damit einhergehende Spannungen aus?
  • Nehme ich in mir Vorurteile gegenüber Fremden und Fremdem wahr und wie ernst nehme ich diese Vorurteile?
  • Gelingt es mir die Individualität anderer Menschen zu respektieren? Wenn nicht, wie fühle mich dabei? 
  • Reflektiere ich den eigenen Standpunkt und prüfe ich diesen kritisch? 
  • Bin ich bereit, Verständnis für andere Standpunkte zu entwickeln und in einen offenen Dialog zu treten?

6.2 Intersektionalität

Viele Menschen können auf mehreren Ebenen diskriminiert werden – das nennt man Intersektionalität (vgl. Degele, Winker 2009). So ist es denkbar, dass eine Person sowohl als Frau als auch als ungelernte Arbeiterin, Muslima und Ausländerin stigmatisiert wird. In der pädagogischen und sozialen Arbeit ist es sehr wichtig, sich immer wieder in die Lebensrealitäten unserer Mitmenschen einfühlen zu können und zu begreifen, wie mehrfache Diskriminierung das Kontakt- und Beziehungsverhalten dieser Personen beeinträchtigen kann. Um der Lebenssituation anderer Personen gerecht zu werden und dieser mit einem respektvollen Verständnis begegnen zu können – insbesondere auch, um einer „Ethnisierungsfalle“ zu entgehen – bietet sich das Konzept der Intersektionalität von Lebenslagen und Identitäten an. 

Denn: Individuelle Lebenswirklichkeiten sind ein Zusammenspiel aus dem sozialen Status, dem Geschlecht, der sexuellen Orientierung, dem Alter, der Sprache und Religion, der Gesundheit, einer möglichen Behinderung und der Nationalität. Sich dieser Vielfalt immer wieder zuzuwenden, schult unsere Fähigkeit zur Akzeptanz. Zugleich hilft es den Betroffenen: Die Erfahrung, voll und ganz akzeptiert zu werden, ist ein sehr wesentliches und primäres Bedürfnis aller Menschen. (vgl. Auernheimer, 2016)

6.3 Kultursensibilität durch ein institutionelles Leitbild

Viele Bildungseinrichtungen und Institutionen für Kinder und Jugendliche sind aktuell aufgefordert, sich mit ihrer Haltung und ihrem Handeln in Sachen Diskriminierung und Inklusion auseinanderzusetzen. Das Ziel: Pädagogische und soziale Institutionen sollen sich in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess ihrer diesbezüglichen Ziele und Aufgaben bewusstwerden. So kann erfasst werden, inwieweit Institutionen die sozialen Kontexte und damit einhergehend Multikulturalität, Mehrsprachigkeit, Migrationsfolgen sowie neue Formen der sozialen Benachteiligung berücksichtigen und darauf eingehen.

Dies erfordert regelmäßige Fortbildungen in den genannten Bereichen sowie Selbstreflexion und Offenheit für Organisations- und Evaluationsprozesse.

 

7. Quellennachweise und Literaturverzeichnis:

Auernheimer, Georg (2016): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik (8. Auflage). Darmstadt. WBG.

Bundesinstitut für Arzneimittel (Hrsg) (2018): ICD–10 -GM systematisches Verzeichnis: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision. Köln. Deutscher Ärzteverlag.

Caner, Gülsüm (2017): Förderung der Resilienz von Kindern mit Fluchterfahrung in Grundschulen: Inwiefern hat die soziale Unterstützung von Lehrkräften, die in Vorbereitungsklassen unterrichten, Einfluss auf die resiliente Entwicklung von Kindern mit Fluchterfahrung? München. GRIN.

Degele, Prof.Dr., Nina, Winker, Prof. Dr., Gabriele (2009): Intersektionalität: zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld. Transskript.

Diers, Manuela (2016): Resilienzförderung durch soziale Unterstützung von Lehrkräften: Junge Erwachsene in Risikolage erzählen. Wiesbaden. Springer.

Kohnke, Sabrina (2009): Resilienz: Wie Kinder und Jugendliche Krisen bewältigen: Anerziehbar oder Folge einer Krise? München. GRIN. 

Lösel, Friedrich et al. (1990): Psychische Gesundheit trotz Risikobelastung in der Kindheit. Untersuchungen zur Invulnerabilität. In: I. Seiffge-Krenke (Hrsg.), Krankheitsverarbeitung von Kindern und Jugendlichen (S. 103-123). Berlin. Springer.

Pianta, Robert et al. (2008): Der Einfluss von Erwachsenen-Kind-Beziehungen auf Resilienzprozesse im Vorschulalter und in der Grundschule. München. 

Robinson, (1968): Resilienz, Krise und Krisenbewältigung. In: Hildenbrand, Bruno, Welter-Enderlin, Rosemarie (Hrsg.) (2006): Resilienz: Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg. Carl Auer.

Werner, Emmy E. (2008): Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz. München. Ernst Reinhardt. 

Wustmann, Corina (2011): Resilienz: Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern (6. Auflage) Berlin. Cornelsen.