Gemeinsam und auf Augenhöhe – Gewaltprävention mit jungen Menschen an der Schule gestalten

Diese Publikation wurde im Rahmen des Projekts „Gemeinsam handeln – Geflüchtete Kinder und Jugendliche stärken“ herausgeben 

Text: Lena Grabowski

Lektorat: Corinna Ditscheid 

Mehr Informationen zum Projekt: 

https://www.savethechildren.de//projekt/gemeinsam-handeln

2023 

© Lena Grabowski / Save the Children e.V.

 

Was ist Gewalt? 

Im Rahmen des Projekts „Gemeinsam handeln – Geflüchtete Kinder und Jugendliche stärken“ hat sich eine Fortbildungsreihe zum Thema aggressives Verhalten und Gewaltverhalten von Kindern und Jugendlichen etabliert. 

Pädagogische Fach- und Lehrkräfte stehen immer wieder vor der Herausforderung, Gewaltvorfälle aufzuarbeiten zu müssen. Im besten Fall gelingt es ihnen, Kinder und Jugendlichen auf eine Weise zu stärken, dass sich Vorfälle reduzieren bzw. nicht wiederholen.

Doch wie genau kommt es zu aggressivem Verhalten und Gewalt bei jungen Menschen? Welche personalen und systemischen Faktoren tragen dazu bei und welchen Einfluss hat die Umgebung? Wie können wir als Gesellschaft Verantwortung übernehmen und Heranwachsende in der Entwicklung ihrer Sozialkompetenzen begleiten, damit ein respektvolles Miteinander gelingen kann?

Ein Blick auf duden.de zeigt, dass der Begriff Gewalt im Deutschen von dem Verb walten stammt. Die dahinterliegende Bedeutung ist: stark sein und beherrschen (https://www.duden.de/rechtschreibung/Gewalt).

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert in ihrem Weltbericht zu Gewalt und Gesundheit aus dem Jahr 2003 den Begriff Gewalt wie folgt: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt“. (WHO, 2003) 

Des Weiteren beschreibt die WHO in ihrem Weltbericht: Gewalt ist ein äußerst diffuses und komplexes Phänomen, das sich einer exakten wissenschaftlichen Definition entzieht. Die Vorstellung von akzeptablen und nicht akzeptablen Verhaltensweisen und die Grenzen dessen, was als Gefährdung empfunden wird, unterliegen kulturellen Einflüssen und sind fließend, da sich Wertvorstellungen und gesellschaftliche Normen ständig wandeln“ (ebd.).

In dieser Publikation werden die Begriffe Aggression und Gewalt genutzt. Aggression meint aggressives Verhalten und aggressive Taten. Gewalt meint das Phänomen der Gewalt und Gewaltverhalten. Auch um Gewalt ausübende Personen geht es im Folgenden. 

In der Gesellschaft werden die Begriffe Aggression und Gewalt oftmals synonym verwendet.  Das hat damit zu tun, dass sich die Begriffe nicht eindeutig voneinander trennen lassen. Unter Aggression werden oft weniger schwere Verletzungen und die Übertretung sozialer Normen verstanden. Als Gewalt werden eher schwere Verletzungen und Gesetzesbrüche bezeichnet. 

In diesem Verständnis wird Aggression oft als Vorform von Gewalt beschrieben. Mit ihr werden sowohl positive als auch negative Kräfte assoziiert. Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erich Fromm unterscheidet zwischen gutartiger und bösartiger Aggression. Während er die gutartige Aggression als notwendiges Energiepotenzial und positive Kraft bezeichnet, sieht er in der bösartigen Aggression einen spezifisch menschlichen Drang, zu zerstören und Kontrolle über andere zu haben. Erich Fromm bezeichnet bösartige Aggression als Destruktion (Fromm, 1973). 

Der deutsche pädagogische Psychologe Hans Peter Nolting gibt in seinen Publikationen eine umfassende und übersichtliche wissenschaftliche Einführung in Formen und Ursachen von Aggressionen. Er differenziert hierbei die Begriffe Aggression und Gewalt folgendermaßen (Nolting 2005):

Aggression: Ein Verhalten, das darauf abzielt, andere Personen gegen ihren Willen zu schädigen oder ihnen weh zu tun und das negative Emotionen erzeugt.

Gewalt: Teil des Aggressionsverhaltens, das schwerwiegende Formen wie körperliche Angriffe, den Einsatz von Waffen sowie psychische und physische Misshandlungen umfasst. Gewalthandlungen werden in der wissenschaftlichen Psychologie als aggressiv gewertet – aber sie betrachtet nicht alle aggressiven Verhaltensweisen als Gewalt.

Es gibt eine große Bandbreite unterschiedlicher Aggressionen (Jonas et al.  2014):

Körperliche Aggression: zum Beispiel schlagen, kratzen, würgen, schupsen, etwas zerstören

Verbale Aggression: zum Beispiel beschimpfen, anschreien, verspotten, abwerten, drohen

Nonverbale Aggression: etwa drohende Fäuste, böse Blicke, gezeigter Mittelfinger

Relationale Aggression: jemanden ausgrenzen, ignorieren oder verleumden

Verknüpfung wissenschaftlicher Erklärungsansätze

Um ein umfassenderes Verständnis für aggressives Verhalten oder Gewaltverhalten von Menschen zu entwickeln, gibt es verschiedene Erklärungsansätze und Theorien aus unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten. 

In der Entwicklung von Präventionsprogrammen ist zu erkennen, dass in den vergangenen Jahrzehnten Erklärungsansätze diverser Wissenschaftsgebiete immer mehr miteinander verknüpft wurden. Das ermöglicht, Erleben und Verhalten von Menschen multifaktoriell zu betrachten. Multifaktoriell bedeutet, dass viele Faktoren auf eine Person, eine Situation oder ein System einwirken und die Entwicklung beeinflussen können.

Der Verknüpfungsprozess unterschiedlicher Wissenschaftsgebiete kann sich positiv auf die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen auswirken. Solche Maßnahmen gestalten sich ganzheitlicher, wenn Präventionsprogramme mehrere, in diesem Fall aggressions- oder gewaltbegünstigende Faktoren berücksichtigen. 

Es folgt eine zusammengefasste und vereinfachte Darstellung dreier wissenschaftlicher Perspektiven auf die Entstehung von aggressivem Verhalten und Gewalt. Die Darstellung ist aufgeteilt in die Bereiche der Biologie, Psychologie und Soziologie.

Innerhalb der drei Wissenschaftsbereiche handelt es sich wiederum um eine kleine Auswahl euroamerikanischer Theorien und Sichtweisen. Diese Auswahl erfolgte, weil einige der genannten Theorien, insbesondere aus der Psychologie und der Soziologie, bereits als Grundlagen für Präventionsprogramme dienen. 

Aggressives, gewaltorientiertes Verhalten ist letztlich nur im Zusammenspiel vielfältiger, sozialer und gesellschaftlicher Bedingungen zu betrachten. Dazu zählen die Erziehung, der situative Kontext, die jeweils individuelle Sozialisation und Disposition sowie zwischenmenschliche Beziehungen. Diese sind wiederum vor dem Hintergrund konstanter Entwicklungsprozesse zu sehen. 

Isolierte und ursächliche Faktoren sind somit nur schwer zu bestimmen und können eine effektive Prävention schwierig gestalten. Dennoch ist Prävention ein wichtiges Werkzeug. Fließen Erkenntnisse aus unterschiedlichen Wissenschaften in Präventionsprogramme ein, können sie in Form von ganzheitlichen biopsychosozialen Modellen präventiv auf eine mögliche Entstehung von Gewaltverhalten einwirken, diese verringern oder auch verhindern.

Gewalt und Aggression – wissenschaftliche Perspektiven

Biologische Ansätze

Biologische beziehungsweise physiologische Faktoren und Bedingungen, die aggressives Verhalten und Gewalt begünstigen, stehen im Fokus aktueller Forschungen. Eine Vielzahl von Studien versuchen, Aggression und Gewaltverhalten über biologische Komponenten zu erklären. 

Dabei werden einzelne genetische Komponenten oder der Einfluss von Neurotransmittern auf impulsives oder auch aggressives Verhalten untersucht. Teilweise stammen Forschungsergebnisse und dadurch aufgestellte Thesen aus der Verhaltensforschung im Tierreich. Im Folgenden sind einige wenige benannt.

Die Neurobiologin Inga Neumann von der Universität Regensburg teilt in ihren zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen folgende These: „Das Phänomen der Aggression hat sich im Laufe der Evolution unter hohem Selektionsdruck als Verhaltensstrategie entwickelt. Sie ist eine Verhaltensstrategie, um die Chancen auf optimale Futterressourcen und auf den besten Paarungspartner zu erhöhen“ (Neumann, de Jong 2015)

Gemeinsam mit anderen Neurobiolog*innen hat sie sich zur Aufgabe gemacht, Gewalt und Aggression in Natur und Kultur vertieft zu erforschen. Diese und weitere Forschungsthesen, die im Kapitel „Biologische Ansätze“ noch genannt werden, werden darin näher erläutert. 

Eine weitere These besagt, dass drei Subtypen aggressiven Verhaltens bei Säugetieren zu finden sind: Die reaktive Aggression als Verteidigung der körperlichen Unversehrtheit und des Besitzes, der Kampf um Ressourcen und der Kampf um soziale Stellung und Bedeutung. 

Daneben scheint es einen Subtyp der Aggression zu geben, der dem Lustgewinn dient und geplant ist. Dieser wurde bislang bei Schimpansen und Menschen nachgewiesen (Vgl. Neumann, de Jong 2015).

Ein Forschungsprojekt untersuchte etwa das Verhalten von Schimpansen näher. Dabei wurden Koalitionsbildungen beobachtet, das Bewachen von Territorien, das Angreifen oder Abwehren benachbarter Gruppen mitsamt Tötungsdelikten sowie Dominanzverhalten und die Klärung von Rangordnungen. Aus diesen Beobachtungen wurde die These entwickelt, dass aggressives Verhalten demnach ein Teil unseres genetisch determinierten Verhaltensrepertoires ist.

In weiteren neuropsychologischen und genetischen Untersuchungen nehmen Forscher*innen – neben genetischen Einflüssen – auch das frühe soziale Umfeld als Faktor in den Blick. Inga Neumann verweist diesbezüglich auf Tierstudien zu frühem Lebensstress:

Beobachtungen zufolge haben Jungtiere, die täglich für ein bis drei Stunden von ihrer Mutter getrennt werden, ein erhöhtes Stressempfinden. Dieses bringt offensichtlich ein höheres Level an Aggression mit sich. Diese als negativ eingestufte Erfahrung früher Trennungen kann, laut Forschung, zu festen neuronalen Bahnen im Gehirn führen, die aggressives Reaktionsverhalten steuern.

Um aggressives Verhalten und die Bereitschaft zur Gewaltausübung im Kindes- und Jugendalter besser zu verstehen, stehen auch körperliche Prozesse im Zentrum der Forschung. Gerade in der Kindheit und insbesondere im Jugendalter finden rasante körperliche Veränderungen statt, die darüber hinaus mit hormonellen Prozessen einhergehen. 

Forscher*innen aus der Biologie und Neurobiologie empfehlen daher, in pädagogischen Untersuchungen neurobiologische Eigenschaften mehr zu berücksichtigen (vgl. Neumann, De Jong 2015). 

Psychologische Ansätze

Psychologische Erklärungsansätze sehen Aggression als biologischen, bei Menschen und Tieren angeborenen Trieb. Dieser ist wesentlich für das Überleben und läuft instinktiv ab. 

Freuds Triebtheorie 

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat 1915 die Triebtheorie entwickelt, die ein allgemeines Konzept der Persönlichkeit darstellen soll. Der sogenannte angeborene Ur-Trieb, auch Todestrieb genannt, steuert demnach die aggressiven und teils destruktiven Verhaltensweisen von Menschen. Diese Dynamik steht laut Freud dem Lebenstrieb gegenüber, bei dem die Entwicklung und Erhaltung des Lebens – des Einzelnen sowie der Gesellschaft – im Zentrum steht. Die Energien beider Triebe werden über die Steuerung des „Ich“, „Es“ und „Über-Ich“ in möglichst sozial akzeptierte Bahnen gelenkt (vgl. Freud, 1915). 

Ich-Es-Über-Ich ist das sogenannte 3-Instanzen-Modell nach Freud: 

Ich: Instanz eines bewussten Alltagsdenkens und Selbstbewusstseins, mit dem Ziel, psychische und soziale Konflikte konstruktiv zu lösen. 

Es: Unbewusste triebgesteuerte Natur, die maßgeblich Nahrungstrieb, Sexualtrieb, Todestrieb, Bedürfniserfüllung veranlasst. 

Über-Ich: Eine psychische Struktur, in der soziale Normen, Werte, Moral und Gehorsam angesiedelt sind. Dies kann sich auch als Gebots- und Verbotsinstanz in Form eines Gewissens ausdrücken 

Der Leitgedanke der Triebtheorie kann für die Prävention von aggressivem Verhalten und Gewalt von Bedeutung sein. Sie ermöglicht es, die triebgesteuerten, dem Unbewussten zugeordneten Impulse von Menschen zu berücksichtigen, wenn wir impulsives Verhalten verstehen wollen.

Das Über-Ich verinnerlicht soziale Regeln und Normen und entwickelt darauf basierend ein entsprechendes Gewissen. Diese sind maßgeblich von der Gesellschaft und den Eltern vorgegeben. In der Entwicklungsphase der Jugend kann beispielsweise eine persönliche Auseinandersetzung mit den verinnerlichten Normen und Regeln stattfinden und zu inneren Spannungsfeldern führen (vgl. Freud, 1923, Bayer 2013). 

Vorgegebene Regeln und Normen können auch eine Grundlage für Konzeptdenken darstellen und Gewalt erst definieren. Auf diese Weise kann ein Unterschied zwischen sozial akzeptiertem und nicht akzeptiertem Verhalten entstehen 

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese 

Mit der Frustrations-Aggressions-Hypothese stellte der amerikanische Soziologe und Psycholoanalytiker John S. Dollard im Jahr 1939 die Behauptung auf, dass auf jeder Frustration eine Aggression folgt. Damit könnten jedoch nicht alle Formen von Aggressionen erklärt werden, denn aggressives Verhalten kann beispielsweise auch auf Schmerzreize hin erfolgen. Frustrationen müssen auch nicht zwangsläufig immer zu Aggressionen führen, sondern können auch andere Zustände hervorrufen, etwa Resignation (Dollard et al. 1980).

Aus diesen Gründen wurde die Frustrations-Aggressions-Hypothese unter anderem durch den Psychoanalytiker Neal E. Miller weiterentwickelt. 

Frustrationen können demnach zu unterschiedlichen Reaktionen führen, von denen eine Form die Aggression sein kann. Was damit gesagt werden kann, ist, dass Frustrationen die Wahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten erhöhen. Menschen, die besonders häufig und langanhaltend aggressives Verhalten zeigen, könnten demnach eine besonders niedrige Frustrationstoleranz haben, oftmals in Kombination mit einer sogenannten Antizipationsschwäche. Das bedeutet, dass die betroffenen Personen stärker auf die Gegenwart fokussiert sind und negative Konsequenzen ihres Handels möglicherweise ausblenden (Miller et al., 1980). 

Der Ansatz bietet in Kombination mit anderen Thesen hilfreiche Hinweise für die Gewaltprävention. Übertragen auf aggressive und Gewalt ausübende Personen besagt er, dass diese möglicherweise mehr Frustrationen erfahren als Menschen, die keine Gewalt ausüben. 

Beispielsweise kann der Ansatz für Gewaltvorfälle in der Schule als Erklärungsmodell dienen und im besten Fall Veränderungsprozesse anstoßen. Da die Schule für Kinder und Jugendliche ein Ort sein kann, an dem sie Frustrationen erleben, ermöglicht es dieser Ansatz, zu analysieren, welche Frustrationsreize auf institutioneller und personeller Ebene bestehen und welche davon realistischerweise reduziert werden können. 

Neben der Verringerung von Frustrationserlebnissen könnten beispielsweise Anerkennung und Erfolg mehr in den Fokus gerückt werden. Auch kann ein genereller Umgang mit Frustrationen erlernt werden, etwa durch Emotionsregulierung oder Impulskontrolle. Gewaltpräventionsprogramme, die mit dem Verstärken und Fördern positiver Verhaltensweisen arbeiten wie beispielsweise das Konzept des Sozialen Lernens oder die Erlebnispädagogik (vgl. Wellhöfer 2018).

Aggression aus lerntheoretischer Perspektive

Die Sichtweise, nach der Aggression als Folge von Lernprozessen gesehen wird, stützt sich auf die Erkenntnisse sozial-kognitiver Lerntheorien. Der kanadische Psychologe Albert Bandura ist einer der bekanntesten Verhaltensforscher, der verschiedene Lernprozesse differenziert (vgl. Bandura 1979): 

Lernen an Erfolg und Misserfolg: Diese Form des Lernens orientiert sich insbesondere an den Folgen aggressiven Verhaltens. Es hat Bedeutung für die Ausbildung von Verhaltensgewohnheiten. 

Folgt etwa auf aggressives Verhalten eine positive Konsequenz, kann es als „erfolgreiches Verhalten“ erlernt werden und sich verfestigen. Eine positive Konsequenz könnte zum Beispiel sein, dass eine negative Situation beendet wird oder negative Konsequenzen ausbleiben.

Jedoch führen negative Konsequenzen nicht unbedingt dazu, dass aggressives Verhalten unterlassen wird. Denn sie können eine Form erhöhter   Aufmerksamkeit sein und somit weiterhin aggressionsfördernd wirken. Darum sollten in der Gewaltprävention vermehrt Ansätze in den Vordergrund rücken, die Verhaltensweisen vermitteln und verstärken, die Erfolgserlebnisse schaffen und darüber zu erhöhter Aufmerksamkeit führen (ebd.).

Lernen am Modell: Hier erfolgt das Lernen durch Beobachtung und Nachahmung. Der Erwerb neuer Verhaltensweisen steht im Mittelpunkt. Das Verhalten kann von allen möglichen Personen vorgelebt werden: Familienmitgliedern, Menschen aus dem sozialen Umfeld, bestimmten Vorbildern oder bekannten Persönlichkeiten.

In der Forschung hat sich gezeigt, dass aggressive Modelle insbesondere von Personen nachgeahmt werden, die selbst bereits aggressive Verhaltensweisen zeigen. Das Lernen am Modell sagt aber auch aus, dass sich Kinder und Jugendliche grundsätzlich aggressives und Gewalt ausübendes Verhalten abschauen und es adaptieren können (ebd.).

Solche lerntheoretischen Ansätze bieten für die Gewaltprävention Anknüpfungspunkte. Hier können Maßnahmen ansetzen, die die Fähigkeit schulen, sich über die Ursache und Wirkung des eigenen Handelns bewusst zu werden. Lob und Anerkennung für Erfolgserlebnisse gehören genauso in die Präventionsmaßnahmen hinein wie das Fördern individuellen Selbstwerts und die Wertschätzung jeder einzelnen Person. Weiterhin zielt die lerntheoretisch-basierte Gewaltprävention darauf, die Selbstwirksamkeit von Personen zu stärken, etwa durch das Sprechen über die eigenen Gefühle und das Erlernen von Techniken zur Problemlösung. 

Das Prinzip des Lernens am Modell bringt insbesondere zum Ausdruck, dass erwachsene und institutionelle Vorbilder eine wichtige Rolle für die Gewaltprävention spielen. Der Ansatz fordert entsprechend, dass Erwachsene insgesamt mehr Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen.

Soziologische Ansätze

Während psychologische Perspektiven auf aggressives und gewaltorientiertes Verhalten die individuellen Ursachen in den Mittelpunkt rücken, lenken soziologische Theorien den Fokus auf die gesellschaftlichen und sozialstrukturellen Bedingungen für solches Verhalten. 

Ätiologische und interaktionistische Theorien

Im Folgenden soll eine grobe Unterteilung soziologischer Theorien in zwei Gruppen ausreichen:

Ätiologische Theorien: Diese beschäftigen sich mit der Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen für delinquentes – also von den Normen der Gesellschaft abweichendes – Verhalten bei Menschen. 

Interaktionistische Theorien: Diese lehnen in ihrer extremen Form die Ursachenforschung ab und verstehen abweichendes Verhalten vielmehr als Ergebnis einer Zuschreibung. Das bedeutet: Ein Verhalten als abweichend zu bezeichnen, macht dieses erst dazu.

Im Gegensatz zur Psychologie wird bei soziologischen Theorien die Formulierung abweichendes Verhalten bevorzugt. Der französische Soziologe Emile Durkheim führte 1893 erstmals den Begriff Anomie ein. Anomie heißt: Norm- oder Regellosigkeit (vgl. Strauss, 2012).

Durkheim führte den Begriff ein, um die individuellen Folgen gesellschaftlicher Umbrüche und sozialer Krisen zu beschreiben. Während solcher Krisen können gesellschaftliche Werte und Normen an Bedeutung verlieren und bei Menschen zu einer Anomie führen, einer Normlosigkeit. Dies kann sich beispielsweise in erhöhter Kriminalität oder erhöhten Selbstmordraten widerspiegeln. Gewaltverhalten wird demnach als Folge gesellschaftlicher Umbrüche und der daraus resultierenden möglichen Desintegration von Menschen gesehen. Desintegration beschreibt die Auflösung eines Zusammenhalts innerhalb einer sozialen Gruppe. Findet eine solche Auflösung statt, kann dies eine Desorientierung bei den jeweiligen Individuen auslösen. Desintegration und eine folgende Desorientierung werden insbesondere in Zeiten sozialen Wandels beobachtet. 

Emile Durkheim stellt somit soziale Sachverhalte als mögliche Ursache für individuelle Taten dar. Er drängt individuelle psychologische Faktoren damit zunächst in den Hintergrund.

Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton greift Durkheims Ansatz auf und denkt ihn weiter. Merton stellt erstmals im Jahr 1938 die Anomietheorie auf. Diese basiert auf dem Grundgedanken, dass die meisten Menschen nach kulturell anerkannten Zielen streben. Wenn der Zugang zu diesen Zielen ganzen Gruppen oder Individuen versperrt bleibt, können sich Anomien entwickeln, die Abwesenheit von Regeln und Normen. So entwickelte sich in der Soziologie die Sichtweise, dass Gewalt eine mögliche Reaktion der Kompensation auf die Herausforderungen der modernen Gesellschaft ist. Als Reaktion tritt sie dann auf, wenn Menschen begrenzte Möglichkeiten haben, allgemein anerkannte gesellschaftliche Ziele zu erreichen (vgl. Strauss, 2012). Die Untersuchung anomiefördernder Strukturen kann für die Gewaltprävention eine wichtige Rolle spielen. Denn wo Bewusstsein dafür geschaffen wird, welche gesellschaftlichen Strukturen Norm- und Regellosigkeit fördern, können Grundlagen für Veränderung entstehen. 

In gesellschaftlichen Umbruchzeiten oder Krisen kann das bedeuten, Kinder und Jugendliche präventiv besonders zu unterstützen, um eine Desorientierung bei ihnen zu verringern. Der Abbau sozialer Ungleichheit an Schulen kann ebenfalls ein wirksamer Ansatz in der Gewaltprävention sein – unter anderem, um Desintegration und Desorientierung und ihre möglichen Folgen zu verhindern.

Labeling Approach 

Die Labeling Approach Theorie wird meist auf den amerikanischen Soziologen, Historiker und Kriminologen Frank Tannenbaum zurückgeführt. In seiner Studie Crime and the Community aus dem Jahr 1938 beschreibt er als Erster, dass durch das Definieren, Identifizieren, Benennen und Betonen bestimmter Eigenschaften genau diese Eigenschaften in Menschen hervorgerufen oder verstärkt werden können (vgl. Tannenbaum 1938, vgl. Wolff, 2009).

Die pädagogische und therapeutische Praxis mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt sich vermehrt mit dem Phänomen, dass Zuschreibungen schwieriges Verhalten aufrechterhalten und sogar verstärken können (vgl. Wolff, 2009). 

Die Labelling Approach Theorie stellt daher die kritische und konfrontative These auf, dass Zuschreibungen und Stigmatisierungen durch Bezugspersonen aus dem nahen sozialen Umfeld einen entscheidenden Einfluss auf aggressives Verhalten haben können (ebd.). 

Für die Gewaltprävention ergibt sich aus dieser Perspektive ein wichtiger Handlungsimpuls: Stigmatisierungsprozesse in Institutionen und von Fachkräften können in den Blick genommen und untersucht werden – mit dem Ziel, zuschreibende Strukturen aufzudecken und Stigmatisierungen zu vermeiden. Somit verändert sich der Fokus – von den Handlungen der gewaltausübenden Personen hin zu den Interaktionen mit der Umwelt.

Zusammenfassend lässt sich zu den diversen soziologischen Erklärungsansätzen sagen: Sie alle sehen abweichendes Verhalten als potenziell verursacht durch soziale Bedingungen, die veränderbar sind. Das wiederum betont die Verantwortung der Gesellschaft, Veränderungen herbeizuführen. Die Veränderung gesellschaftlicher und sozialer Bedingungen kann positiven Einfluss auf Prognose, Prävention und Resozialisierung haben.

Entwicklungsphase Jugend

Für ein besseres Verständnis gehäuften Gewaltverhaltens im Jugendalter wird diese Entwicklungsphase mit ihren Besonderheiten im Folgenden besonders betrachtet. 

Die Jugend ist eine Phase vieler Entwicklungen und Veränderungen. In der Vergangenheit wurde sie oft ausschließlich als Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter beschrieben. Heute gilt die Adoleszenz als eigene Entwicklungsphase, die nicht nur der Vorbereitung auf das Erwachsenenalter dient, sondern der Entwicklung eigener Interessen und Beschäftigungen. 

Die Jugend ist keine klar definierte Altersphase. Ihre Definition hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ausgedehnt und orientiert sich heute weniger an strikten Altersmarken als an den zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben und Rollenübergängen. 

Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen

Entwicklungsaufgaben, mit denen sich jugendliche Personen auseinandersetzen, drücken sich beispielsweise in einer zunehmenden Ablösung vom Elternhaus aus. Weitere Themen können sein: der Aufbau neuer und reiferer Kontakte zu Gleichaltrigen, die Entwicklung einer (beruflichen) Zukunftsperspektive, die Orientierung in der sexuellen Identität, die Auseinandersetzung mit sozialen Rollen und Bildern, die Entwicklung eigener Werte und die Herausbildung eines Selbstbildes. 

Die Vielfalt der heute möglichen Lebensformen bei zeitgleicher Individualisierung, komplexe gesellschaftliche Anforderungen sowie mediale Einflüsse treffen mit den körperlichen, emotionalen und kognitiven Veränderungen der Einzelnen in der Jugendphase zusammen. In der Folge können vielfältige Verunsicherungen in unterschiedlichen Lebensbereichen entstehen. Diese können sich in sozial unangepassten Verhalten ausdrücken. 

Auch typisch für die Jugendphase ist ein gesteigertes Risikoverhalten und das Austesten persönlicher Grenzen. Solches Verhalten kann sich unter anderem in Alkohol- und Drogenkonsum, riskantem Sexualverhalten oder delinquentem Verhalten zeigen – etwa in Verkehrs- und Diebstahldelikten oder Gewalttätigkeit. Auch Mutproben mit gefährlichem Verhalten treten vor allem in der Jugend auf. 

Diese Verhaltensweisen sind zunächst typisch und verändern sich häufig mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter. Sie werden mit unterschiedlichen Ansätzen erklärt, etwa mit dem Konzept der Entwicklungsaufgaben oder der kognitiven Entwicklung, mit Stressbewältigungstheorien oder mit dem persönlichkeitspsychologischen Konzept des sensation seeking., welches 1974 von Marvin Zuckerberg entwickelt wurde (https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/sensation-seeking).

Konzept der Entwicklungsaufgaben: Dieses sagt aus, dass Menschen im Verlauf ihres Lebens immer wieder vor unterschiedlichen Problemen stehen, die es zu bewältigen gilt (vgl. Löbl 2016).  

Konzept der kognitiven Entwicklung: Dieses geht von vier Haupt-Stadien kognitiver Entwicklung aus: 0-2 Jahre, 2-7 Jahre, 7-12 Jahre und ab 12 Jahre. Jedes Stadium hat unterschiedliche Entwicklungsschwerpunkte. Basierend auf dem Prinzip der Anpassung oder Adaption an die Umwelt geht es in den jeweiligen Stadien darum, die Umgebung mitzugestalten und bestmöglich mit ihr zu interagieren (vgl. Piaget 1975). 

Stressbewältigungstheorien: Diese umfassen biologische und psychologische Modelle. Erstere sehen Stress als Reaktion und verknüpfen äußere Belastungsfaktoren auf messbare Weise mit inneren Reaktionen. Psychologische Modelle sehen Stress als Interaktion und beschreiben die Wirkung von Stressoren angesichts verfügbarer innerer Bewältigungsmöglichkeiten. Diese Ansätze werden wiederum ergänzt durch soziologische Modelle, die Stress im sozialen Kontext betrachten und analysieren (vgl. Strauss 2012).

Sensation Seeking: Das Konzept meint das Bedürfnis von Personen, nach abwechslungsreichen, komplexen Eindrücken und die Bereitschaft, dafür physische und soziale Risiken auf sich zu nehmen (vgl. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/sensation-seeking).

Positive Aspekte jugendlicher Delinquenz

Jugendliches Risikoverhalten kann eine positive Funktion im Alltag haben. Nicht selten stellt es den Versuch dar, sich einer spezifischen Situation anzupassen, bzw. kann als solcher interpretiert werden. 

Der deutsche Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann geht davon aus, dass Risikoverhalten in der Jugend auch das Ergebnis einer Überforderung sein kann. Er sieht dies vor allem dann, wenn eine besondere psychosoziale Belastung zu hohem Stress führt und die betroffene junge Personen keine angemessenen Ressourcen zur Verfügung hat, um die Belastung zu bewältigen (vgl. Deutsches Jugendinstitut, 1997) 

Der österreichische Pädagogikprofessor Helmut Fend wiederum sieht die Funktion von antisozialen und risikoreichen Verhaltensweisen darin, Unabhängigkeit von Erwachsenen zu demonstrieren. Er stuft solches Verhalten entwicklungsbedingt eher als normal ein, solange es nicht in zu jungem Alter und über verschiedene Lebensbereiche hinweg gehäuft auftritt (ebd.).

Familie – prägender Ort des Sozialverhaltens

Die Familie ist der wichtigste prägende Faktor für das Sozialverhalten. Hier lernt ein Kind die Grundlagen menschlichen Miteinanders kennen. Bestenfalls entwickelt das Kind Urvertrauen in sich selbst und seine Umgebung. Die Eltern haben dabei eine wichtige Vorbildfunktion. Fähigkeiten wie Konfliktlösungen werden durch Nachahmung ebenso erlernt wie bestimmte Arten, zu streiten. Die Qualität des Bindungs- und Beziehungsverhaltens zwischen Eltern und Kind ist dabei wesentlich für den Aufbau späterer Beziehungen.

Familiäre Risikofaktoren

Im weitesten Sinne macht ein Kind in der Familie auch die ersten Erfahrungen mit Aggression und Gewalt. Demnach werden Aggression und Gewalt vor allem in der Familie erfahren und erlernt. Sie können beispielsweise als Mittel eingesetzt werden, um eigene Interessen durchzusetzen oder bestimmte Ziele zu erreichen.

Einige familiäre Risikofaktoren stehen in direkter Beziehung zu aggressivem Verhalten und Gewaltverhalten bei heranwachsenden Personen. Dazu zählen vor allem die Erfahrung innerfamiliärer Gewalt. Wer als Kind in der Familie Zeug*in von Gewalt wird, körperliche Misshandlung erfährt, antisoziales und kriminelles Verhalten bei nahen Bezugspersonen erlebt, vernachlässigt wird, inkonsistentes Erziehungsverhalten erlebt oder eine negative Eltern-Kind-Beziehung erfährt, neigt mit größerer Wahrscheinlichkeit zu aggressivem Verhalten und Gewalt. 

Diplomsoziologe und Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention Prof. Dr. Dirk Baier beschreibt einen direkten Zusammenhang zwischen Formen von Misshandlungen durch die Eltern und eigenen gewalttätigen Verhalten. Demnach üben die Jugendlichen am wenigsten Gewalt aus, die während der Kindheit keine körperliche Gewalt durch nahe oder primäre Bezugspersonen erfahren haben. Die Wahrscheinlichkeit für gewalttätiges Verhalten erhöht sich, wenn die Jugendlichen in der Kindheit oder Jugend schwerer körperlicher und anderen Formen von Gewalt durch die Eltern ausgesetzt waren. Auch der viel diskutierte niedrige sozioökonomische Status kann ein weiterer Risikofaktor sein. Das Risiko selbst gewalttätig zu werden steigt immer dann, wenn mehrere Risikofaktoren in der familiären und sozialen Umgebung bei jungen Menschen zusammenkommen. (Baier, 2022).

Hauptfunktionen von Gewalt in Gruppen

Nach Thomas Wetzstein, wissenschaftlicher Assistent für den Fachbereich Soziologie an der Universität Trier, und Roland Eckert, Professor für Soziologie, Bildungs- und Jugendsoziologie an der Universität Trier, lassen sich vier Hauptfunktionen von Gewaltverhalten in Gruppen von Jugendlichen zusammenfassen (vgl. Eckert, Wetzstein 2003, vgl. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention 2007) : 

Gewaltverhalten auf der Suche nach Spannung und Aktivität: Solches Verhalten kann als Selbstzweck dienen. Gewalt kann demnach für einen Gefühlszustand stehen, der aktiv aufgesucht wird. Dabei kann eine Erfahrung von Abenteuer, Aufregung und Risiko gemacht werden, was auch als Adrenalin – Kick bekannt ist. 

Gewaltverhalten als Reaktion auf Gefühle der Benachteiligung:  Solches Verhalten kann zum Beispiel aufgrund fehlender ökonomischer Ressourcen auftreten. Durch die Anerkennung Gleichaltriger aus der Gruppe kann solches Verhalten verstärkt werden. Es bietet Möglichkeiten, persönliche Schwächen, Gefühle des Versagens oder Erfahrungen sozialer Benachteiligung zu kompensieren. Erleben die Jugendlichen in anderen Bereichen keine Wertschätzung, suchen sie diese in der Gleichaltrigengruppe durch riskantes Verhalten. 

Gewaltverhalten der Gruppe als Mittel zur Selbstbehauptung: Aggressives Verhalten kann dazu dienen, sich anderen gegenüber zu behaupten, durchzusetzen und abzugrenzen. Es kann darüber hinaus identitätsstiftend sein und den Gruppenzusammenhalt stärken. Es kann bei Außenstehenden scheinbaren Respekt und Ansehen erzeugen.

Ideologisch legitimiertes Gewaltverhalten: In diesem Fall hat das Verhalten die Funktion, Teil einer Gruppe zu sein. Es wird als notwendiger Schritt erlebt, sich eine bessere Zukunft zu erkämpfen. 

Gesellschaftliche Rollenzuschreibungen

In Abgrenzung zu biologisch definierten Geschlechtern, männlich und weiblich, hat sich der Begriff gender etabliert, der übersetzt Geschlecht heißt. Sozialisation, Kultur, Politik und Biologie bilden allesamt Einflussfaktoren auf die individuell erlebte Geschlechtsidentität. Sie beeinflussen die Selbstwahrnehmung, das Selbstwertgefühl und das Rollenverhalten.

Gendergerecht oder gendersensibel bedeutet, allen Geschlechtern gerecht zu werden – dem weiblichen und dem männlichen Geschlecht ebenso wie transgeschlechtlichen Menschen oder nicht binären Personen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen.

In der Forschung zu aggressivem Verhalten und Gewalt stehen aktuell keine gendersensiblen Daten aus geschlechterreflektieren Studien zur Verfügung. In diesem Kapitel kann daher zunächst nur auf Studienergebnisse zurückgegriffen werden, die Aggression und Gewalt, deren Ursachen und Ausdrucksformen an weiblich gelesenen und männlich gelesenen Personen untersuchen. Dies bildet jedoch ein binäres, in die Kategorien „weiblich und männlich“ aufgeteiltes Weltbild ab, das nicht binären Personen nicht gerecht wird und Geschlecht nicht ausreichend reflektiert. 

Dieses Kapitel setzt sich mit datenbasierten Unterschieden von Aggression und gewaltorientiertem Verhalten bei männlich gelesenen und bei weiblich gelesenen Personen auseinander. Die Herausbildung der Geschlechtsidentität Mädchen* (weiblich) und Jungen* (männlich), kann mit stigmatisierenden Rollenbildern von Weiblichkeit und Männlichkeit einhergehen. Gesamtgesellschaftlich vermittelte Rollenbilder können somit Einflussfaktoren auf aggressives, gewalttätiges Verhalten darstellen. 

Mit dem Genderstern soll die geschlechtliche Vielfalt auf sprachlicher Ebene verdeutlicht und das Bewusstsein gestärkt werden, dass es auch Zwischengeschlechter gibt.

Im Mittelpunkt der Forschung stand in den vergangenen Jahrzehnten und bis heute immer noch immer ein Männlichkeitsbild, das mit traditionellen Attributen wie Durchsetzungskraft, Stärke, Mut, körperlicher Überlegenheit, Leistung und Dominanz assoziiert wird. Das kann, Stand der Forschungen, zur Folge haben, dass vielerorts gewalttätiges Verhalten noch immer als Mittel zur Stabilisierung männlicher Identität angesehen wird. Die zum Ausdruck gebrachte Gewalt wird dabei als männliche Form von Konfliktlösung und Selbstdarstellung definiert. Dieses definierte Rollenbild kann sich in einem kollektiven Prozess in Gruppen von Gleichaltrigen herausbilden oder durch die Nachahmung von Vorbildern entstehen.

 In der – stereotyp gedachten – männlichen Sozialisation soll demnach Aggressivität und Gewaltbereitschaft nach wie vor eine positive Bedeutung haben: Eine Person, die Aggressionen zielgerichtet einsetzt und damit ihre Überlegenheit demonstriert, kann mit einem höheren sozialen Status belohnt werden.

Dies prägt auch die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Bei Aggression und Gewalt wird vor allem an physische Gewalt und voreilig an männlich gelesene Personen gedacht. 

Unterschiedliche Untersuchungen weisen jedoch zunehmend darauf hin, dass auch Mädchen* und Frauen* aggressiv sein und Gewaltverhalten aufweisen können. 

Studien zufolge scheint es sich bei Aggression und Gewalt von Mädchen* und Frauen* eher um indirekte Formen handeln. Diese sind weniger gut beobachtbar und somit weniger zählbar. Sie gehen daher seltener in Statistiken mit ein. Bei verbaler Aggression und Gewalt hingegen gibt es weniger Unterschiede zwischen den Geschlechtern als bei körperlicher Gewalt.

Des Weiteren gehen Untersuchungen der Frage nach, warum körperliche Aggression oder Gewalt bei männlich gelesenen Personen in der Kindheit und Jugend mehr vorkommen. Analysiert wurden dabei zwei Entwicklungen, in Abgrenzung zur Entwicklung weiblich gelesener Personen: 

Persistentes gewalttätiges Verhalten: Verhalten, das in der Kindheit beginnt und seitdem anhält, wird als „childhood-onset“ bezeichnet.

Jugendtypisch abweichendes Verhalten: Bei diesem Verhalten treten erste Auffälligkeiten in der Jugend auf. Es wird als „adolescent-onset“ bezeichnet. 

Bei weiblich gelesenen jungen Menschen findet sich, Stand der Forschung, nur ein Entwicklungspfad. Dieser wird als „delayed-onset“ bezeichnet. Gemeint ist, dass Risikofaktoren aus der Kindheit erst in der Adoleszenz zum Tragen kommen und Ausdruck finden (vgl. Baier 2022):  

Aus diesen Beobachtungen entwickelte sich die Frage, warum bei ähnlichen Bedingungen, Jungen* bereits in der Kindheit erste Auffälligkeiten zeigen, Mädchen* jedoch eher nicht. Als Erklärung werden unter anderem die nicht-aggressiven Verhaltensmuster der weiblichen Sozialisation herangezogen. Das heißt: Noch immer scheinen aggressive Verhaltensweisen von Mädchen* mehr unterdrückt zu werden. Solche Verhaltensweisen kommen erst ab der Pubertät zum Ausdruck.

Die Annahme, dass Mädchen* weniger Risikofaktoren unterliegen als Jungen* und deshalb seltener gewalttätig werden, kann derzeit nicht bestätigt werden. Mädchen* und Jungen* unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Bedingungen, unter denen sie Gewalt ausüben. Mädchen* zeigen demnach aggressives Verhalten eher in Form von psychischer Gewalt wie Mobbing, Ausgrenzung, Zuschreibungen und verbalen Angriffen.

Einflussfaktor Medien

Kinder und Jugendliche finden in Medien zahlreiche Modelle für aggressives und gewalttätiges Verhalten. Dabei kommen sie auch mit Verhaltensweisen in Kontakt, die nicht im alltäglichen Leben, sondern vorrangig über Medien zugänglich sind. Langes Verweilen im Internet oder häufige Computerspiele, kombiniert mit einer entsprechenden Gewaltthematik, können zu einem Realitätsverlust führen. 

Es gibt unterschiedliche Hinweise darauf, dass in Computerspielen eingeübte aggressive Handlungen in die Realität umgesetzt werden können. Durch häufigen Konsum gewalthaltiger Medien kann die Fähigkeit zur Empathie verloren gehen. Es kann zu einer Gefühlstaubheit und zu einem Gewöhnungseffekt kommen. Wissenschaftliche Forschungszweige wie die Neurobiologie und die Psychologie gehen aktuell davon aus, dass sich Kinder und Jugendliche durch den Konsum medial vermittelter Gewalt einen Vorrat an Aggressionen anlegen.

Ob Aggressionen wirklich in die Realität umgesetzt werden, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Vorliegende Daten und Erfahrungen sprechen zunächst dafür, dass biografische Hintergründe, das nahe und weitere soziale Umfeld, die aktuelle Lebenslage und die jeweilige Entwicklungsphase mit beeinflussen, wie medial vermittelte Bilder individuell und in der Gruppe verarbeitet und integriert werden. Dies ist mehr von Bedeutung, als die Intensität und Kontinuität der Mediennutzung. 

Computer versus Fernsehen

Studien, die die Zusammenhänge zwischen selbst ausgeübter Gewalt und Medienkonsum untersuchen, unterscheiden aktuell zwischen dem Einfluss des Fernsehens und dem Einfluss gewalthaltiger Computerspiele. Eine eindeutige Trennung von TV, Video, Computer und Internet wird jedoch zunehmend schwierig, da es mittlerweile mehr multifunktionale Geräte gibt. 

Bezüglich des Fernsehkonsums liegen unterschiedliche Ergebnisse vor, die einen Zusammenhang zwischen fernsehen und aggressiven Handlungsmustern, aggressiven Problemlösestrategien, allgemein aggressivem Verhalten und antisozialen Tendenzen aufzeigen. 

Gewalthaltige Computerspiele: Die Wirkung solcher Spiele scheint geringer zu sein als beim Fernsehen. Festgestellt wurden vor allem physiologische Erregung, die Herausbildung antisozialer Denkweisen und entsprechende Emotionen. 

TV und Video: Zahlreiche Studien insbesondere mit Kindern zeigen, dass nach dem Konsum gewalthaltiger Inhalte nachahmendes Verhalten mit Puppen oder Stofftieren zu beobachten ist. Aggressives Verhalten tritt demnach häufiger auf, wenn es zuvor gesehen wurde. 

Aktuell ist davon auszugehen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Konsum gewalthaltiger Medien und eigenem, aggressiven und gewalttätigen Verhalten besteht. Allerdings ist dieser Zusammenhang nicht direkt, da nicht alle Kinder oder Jugendlichen, die Gewaltfilme oder gewalthaltige Videospiele konsumieren, tatsächlich gewalttätig werden. Viele weitere Faktoren, die Aggression oder Gewalt fördern, spielen dabei ebenfalls eine wesentliche Rolle.

Gewalt in der Schule

Das Thema Gewalt in der Schule ist nicht neu. In den 1960er bis 1980er Jahren stand die Gewalt durch Lehrkräfte im Fokus von öffentlichen Debatten. Im Jahr 1972 wurde erstmals in Deutschland die Prügelstrafe abgeschafft.

Gewalt durch Lehrkräfte oder die Schule als Institution wird seitdem in den Diskursen immer mehr vernachlässigt. Heute steht Gewalt unter Schüler*innen immer mehr im Fokus. Sie sind mit Debatten über Gewalt bei Jugendlichen eng verwoben. 

Unter anderem durch die mediale Berichterstattung wird in der Öffentlichkeit ein Anstieg von Gewalttaten an Schulen wahrgenommen. Dies hat zu vielen Diskursen und einer Häufung entsprechender empirischer Studien in den vergangenen 15-20 Jahren geführt. Darauf aufbauend entstanden auch einige Metaanalysen. 

In Reaktion darauf wurde auf politischer Ebene kurzfristig Projekte ins Leben gerufen und Gelder für unterschiedliche Präventionsmaßnahmen bereitgestellt. Diese wurden jedoch selten langfristig umgesetzt.

Gewaltprävention braucht Ist-Zustand-Analysen und Ziele

Um Gewalt an Schulen konstruktiv und lösungsorientiert anzugehen, braucht es zunächst eine Übersicht. Die betroffene Schule kann sich folgende Fragen stellen:

  1. Welche Gewaltformen finden vorrangig statt?
  2. Welche Faktoren begünstigen ggf. das Gewaltverhalten?
  3. Welche Maßnahmen sind für welche strukturelle oder personelle Ebene notwendig? 
  4. Welche Maßnahmen sind für welche Altersgruppe der Schüler*innen geeignet? 
  5. Handelt es sich um akute Interventionsmaßnahmen oder sind Präventionsmaßnahmen umsetzbar?
  6. Welche dieser Maßnahmen sind evidenzbasiert?
  7. Wie oft und wie lange sollten die Maßnahmen laufen? 
  8. Werden Etappenziele, Zwischenreflexionen und Anpassungen der Projekte und Prozesse definiert? Ist damit eine gewisse Nachhaltigkeit zu gewährleisten?

Weitere schulinterne Einflussfaktoren 

Es ist nicht einfach, die Verbindungen zwischen Ursache und Wirkung von Gewalt in der Schule herauszufinden. Faktoren aus verschiedenen Bereichen spielen eine Rolle, die nicht leicht in einen Kausalzusammenhang gebracht werden können. 

Dr. Phil Wolfgang Melzer, dessen Forschungsschwerpunkte Schulevaluation, Schulentwicklung und Gewaltforschung im Schulsystem sind, nennt innerhalb der Schulkultur die Professionalität der Lehrer*innen für den mit Abstand wichtigsten Faktor. Eine gesunde Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen stellt demnach eine wichtige gewaltpräventive Maßnahme dar. Ebenso auch die Möglichkeit für Schüler*innen, an der Gestaltung der schulischen Umwelt zu partizipieren, als auch Verantwortung in AGs zu übernehmen. Weitere präventive Faktoren sind Melzer zufolge die Klassenkohäsion und die allgemeine Befindlichkeit der Schüler*innen (vgl. Melzer, 2004). 

Melzer weist darauf hin, dass es in Schulen erfahrungsgemäß eine kleine Gruppe von Pädagog*innen gibt, die selbst aggressiv ist und zu Verletzungen und Abwertungen der Schüler*innen neigt. In diesem Zusammenhang nennt er beispielsweise starke Kritik, Beleidigungen, Herabwürdigungen oder üble Nachrede und spricht zum Teil von strafrechtlich bedeutsamer Gewalt durch Lehrer*innen. 

In einer bundesweiten Befragung von Schüler*innen aus dem Jahr 2007/2008 gaben mehr als ein Viertel der befragten Schüler*innen an, von Lehrer*innen lächerlich gemacht bzw. gemein oder unfair behandelt worden zu sein. Das Verhalten der Lehrer*innen benennt Melzer als schulimmanenten Faktor für Gewalt. Weitere schulinterne Risikofaktoren sind ihm zufolge Leistungsdruck sowie eine unzureichende soziale Teilhabe von Schüler*innen.

Die Mitarbeitenden an den Schulen sehen laut derselben Umfrage wiederum die Ursachen für Gewalt primär in den gesellschaftlichen Verhältnissen und im familiären Bereich. Gewalt wird von ihnen eher als außerhalb des Wirkungsbereichs der Schule liegend wahrgenommen (vgl. Melzer, 2004, Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention, 2007).

Schulstrukturen und ihr Einfluss auf Gewaltprävention

Regionale Fachaufsichten

Das System Schule ist ein komplexes Gefüge. Es gibt regionale Fachaufsichten, wie beispielsweise die Ministerialbeauftragten für Realschulen und Gymnasien, und staatliche Schulämter. Diese haben zum einen die Vorgaben des Kultusministeriums weiterzugeben, können zum anderen jedoch durch ihre Vorgesetztenfunktion für Schulleitungen eine schulische Gewaltprävention bedeutend beeinflussen. 

Ihr Engagement bestimmt mit, inwiefern gewaltpräventive Fortbildungen für Lehrkräfte in ihrem Verantwortungsbereich gefördert und unterstützt werden. Dazu zählt auch, Werbung für gewaltpräventive Aktivitäten in ihren Rundbrief aufzunehmen. Außerdem können sie Schulleitungen bei entsprechenden Problemen dazu anzuregen, sich für eine schulexterne Unterstützung durch Fachstellen und Expert*innen zu öffnen. 

Fachaufsichten haben es in der Hand, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Schulleitungen sich offen zu einem Gewaltproblem an ihrer Schule bekennen können. Bekannt sind jedoch auch Fälle, in denen eine Schulleitung das Thema verschweigt, um sich nicht zu blamieren. Dabei sollten insbesondere Transparenz, Wertschätzung und ein offensives Herangehen an die Thematik gefördert werden. Fachaufsichten sind den einzelnen Schulen gegenüber jedoch nur bedingt weisungsbefugt. Sie können nur unterstützend tätig sein (Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention, 2007).

Schulleitungen

Eine zentrale Bedeutung für die funktionierende Gewaltprävention an Schulen hat die Schulleitung. Ohne ihr Einverständnis kann beispielsweise keine Veranstaltung zur Gewaltprävention stattfinden. Die Schulleitung deutet die ministerialen Vorgaben, engt entweder den Spielraum für Gewaltprävention ein oder berücksichtigt das Thema in Lehrplänen und im Rahmen der Schulorganisation. 

Schulleitungen können im Bereich der Gewaltprävention auf viele Möglichkeiten zurückgreifen. Sie können bereits bei der Auswahl künftiger Mitarbeitender qualifizierte und engagierte Lehrkräfte an die Schule holen. Außerdem können sie das Potenzial des Konfliktmanagements bei den Lehrkräften erhöhen, etwa durch schulinterne Fortbildungen (SchiLf) oder Supervisionsgruppen. 

Auch kann die Schulleitung Initiativen aus dem Kollegium, von den Schüler*innen oder der Elternschaft aufnehmen, unterstützen und fördern. Eine Strategie sind zum Beispiel, von Lehrkräften initiierte Ausbildungen von Schüler*innen zu Konfliktlots*innen. Auch können Projekte zum Thema Gewalt im Rahmen des Unterrichts umgesetzt werden. Die Schulleitung kann Lehrkräfte bei solchen Initiativen konkret durch die Freistellung vom Unterricht oder durch das Anerkennen von Verfügungsstunden für die Projektarbeit unterstützen.

Lehrer*innenkollegium

Das Kollegium ist eine wichtige Ressource für die Ausführung und Umsetzung von Präventionsprogrammen an der Schule. Vom Interesse und Engagement einzelner Lehrkräfte hängt es ab, ob Prävention durchgeführt wird. 

Die Akzeptanz des gesamten Kollegiums ist ausschlaggebend dafür, inwiefern Gewaltprävention dauerhaft an der Schule etabliert wird. 

So kann beispielsweise das bereits erwähnte Model der Konfliktlots*innen vor allem dann bestehen, wenn sich dauerhaft Kolleg*innen finden, die es betreuen. Das heißt unter anderem, Schüler*innen aus den eigenen Klassen zu Konfliktlots*innen zu schicken, sobald diese in Konflikte geraten. Wenn das Kollegium diesem Modell ablehnend gegenübersteht, spüren die Schüler*innen das und lassen sich nicht auf die Konfliktlots*innen ein. 

Das Kollegium ist also neben den Schüler*innen eine wichtige Zielgruppe von Gewaltprävention. Es wirkt sich positiv Effekte auf die Prävention aus, wenn Lehrkräfte in der Konfliktbearbeitung und/oder der Verbesserung des Klassenklimas geschult werden und ihre Kompetenzen entsprechend weiterentwickeln können. 

Schulsozialarbeit

Die Lern- und Leistungsbereitschaft von Schüler*innen kann beeinträchtigt sein, wenn die Atmosphäre in der Klasse nicht gut ist, es Mobbingvorfälle gibt, Schüler*innen Liebeskummer haben oder sie andere Herausforderungen bewältigen müssen. Der Auftrag von Lehrer*innen ist, Sach- und Fachkompetenzen zu vermitteln und Leistungen zu bewerten. So bleibt ihnen oftmals wenig Zeit, um den sozialen und individuellen Problemen von Schüler*innen zu begegnen und ihnen als Ansprechpartner*innen zur Verfügung zu stehen.

Daher hat sich in vielen Schulen die Schulsozialarbeit etabliert. Schulsozialarbeiter*innen unterstützen das System Schule in sozialen Belangen von Kindern und Jugendlichen. Ein sozialpädagogisches Studium und Kenntnisse über entsprechende Methoden ermöglichen ihnen eine andere Herangehensweise, um die Gefühle und Bedürfnisse der Schüler*innen aufzufangen. Sie sind institutionell unabhängig (von der Schulleitung, Lehrer*innen und der Schulbehörde) und können dadurch neutrale Vertrauenspersonen für die Schüler*innen sein.

Schulsozialarbeiter*innen können zum einen individuelle Beratung anbieten. Zum anderen arbeiten sie oftmals auch mit ganzen Klassen oder Gruppen zu bestimmten Themen. Sie können in Krisensituationen unterstützen und gemeinsam mit Schüler*innen in schwierigen Situationen nach Lösungen suchen. Schulsozialarbeiter*innen arbeiten oftmals auch präventiv, um Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu stärken. Das Ziel ist, dass die jungen Menschen lernen, Konflikte adäquat zu lösen, und damit Gewalt an der Schule verringert wird.

In Sozialtrainings, beim Sozialen Lernen im Unterricht und an themenspezifischen Projekttagen kann gezielt an Sozialkompetenzen von Schüler*innen gearbeitet werden. Mit gestärkten sozialen Kompetenzen können sich die Schüler*innen im Schulkontext wohler fühlen und in einer angenehmeren Lernatmosphäre ihr Wissen erweitern.

Schüler*innen

Nicht zuletzt sind natürlich die Schüler*innen eine wichtige Zielgruppe von Gewaltprävention an der Schule. Da die Schüler*innen in Klassen organisiert sind, haben sich viele Präventionsprogramme für Schulen auf die Struktur „Klasse plus Lehrkraftʺ und einen 45- oder 90-Minuten-Rhythmus eingestellt. In diesem festen Zeitrahmen können auch nicht besonders motivierte Schüler*innen und die sogenannte schweigende Mehrheit erreicht werden. 

Gewaltpräventionsprogramme wie Soziales Lernen, Anti-Aggressions-Training, Empowerment oder Empathieschulung, um nur einige zu nennen, wenden sich an alle Klassenstufen und alle Schüler*innen. Klassenlehrer*innen können in Train-the-Trainer-Seminaren ausgebildet werden, um die Programme in ihren Klassen selbst durchzuführen. Oder es werden externe Akteur*innen eingeladen, die mit den Klassengemeinschaften zusammenarbeiten. 

Prävention in der Gesamtgesellschaft

Gewaltprävention umfasst eine Vielzahl von Maßnahmen, Programmen und Strategien. Sie wird derzeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen. Das ist einerseits zu befürworten – andererseits kann es dazu führen, dass sich viele Angebote und Maßnahmen etablieren, deren Wirksamkeit sich nicht immer durch nachweisbare Studien bestätigen lässt. 

In dieser Publikation werden in Kapitel 11 nur einige ausgewählte gewaltpräventive Maßnahmen betrachtet, die seit vielen Jahren wirksam an Schulen und in der Kinder- und Jugendhilfe eingesetzt werden. 

Präventionsstufen 

Primärprävention 

Primärpräventive Maßnahmen richten sich an die Allgemeinheit und an alle Personen. Das Ziel ist, Menschen zu empowern, bevor es zu Auffälligkeiten im Verhalten kommt. Dabei sollen insbesondere positive Verhaltensweisen gefördert und Wissen darüber vermittelt werden, wie Menschen Informationen und Unterstützung finden, wenn sie sich unsicher oder benachteiligt fühlen. Solche Präventionsmaßnahmen sollen dafür sorgen, dass abweichendes Verhalten nicht auftritt. Insbesondere aggressives Verhalten soll verhindert werden. 

Ebenfalls sollen solche Maßnahmen die Voraussetzungen beeinflussen, aus denen sich Gewalt entwickeln könnte. Hierzu zählt, Benachteiligungen im Schul- und Bildungswesen und in der Jugendhilfe zu vermeiden ebenso wie die Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen im frühen Kindesalter. 

Die grundlegende Idee der Primärprävention ist: Gewaltprävention soll nicht erst dann ansetzen, wenn es zu Auffälligkeiten kommt. Sie soll möglichst sehr früh und in jedem Fall davor ansetzen. Primärpräventive Maßnahmen sollten an der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen orientiert sein. Sie sollten Faktoren verringern, die das Risiko von Gewalt erhöhen, und Bedingungen fördern, die das Risiko von Gewalt mildern.

Sekundärprävention 

Die Sekundärprävention richtet sich insbesondere an Personen und Gruppen, bei denen bereits bestimmte Risiken vorliegen oder die als besonders gefährdet hinsichtlich der Entwicklung von Gewaltverhalten eingeschätzt werden. 

Das Ziel solcher Prävention ist es, Risikoverhalten abzubauen und tatsächliche Gewalttaten zu vermeiden. Zu Sekundärprävention gehört auch die Resilienzförderung. Durch diese können Betroffene etwaige soziale und umweltbedingte Risikofaktoren besser bewältigen. Auch Maßnahmen, die stark abweichendes Verhalten reduzieren sollen, gehören zu dieser Prävention. Dabei sollen gewaltfördernde Bedingungen beleuchtet und – sofern möglich – reduziert werden. Schutzmaßnahmen von Personen, die von Gewalt betroffen sind, zählen ebenfalls dazu. Das kann zum Beispiel Straßensozialarbeit mit auffälligen Jugendlichen, Selbstbehauptungskurse für junge Menschen oder das Verbot von Alkoholausschank in diversen Settings umfassen. 

Tertiärprävention 

Die Tertiärprävention richtet sich an Personen, die bereits ein verfestigtes, stark abweichendes Verhalten zeigen. Dazu zählen Personen, die bereits mehrfach gewalttätig waren und möglicherweise bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. Das Ziel ist es, eine weitere Verfestigung und vor allem die Wiederholung solchen Verhaltens zu vermeiden. Solche Maßnahmen gegen Rückfälle umfassen zum Beispiel die Straßensozialarbeit sowie therapeutische Angebote, Sanktionierungen oder umfassende Resozialisierungsprozesse. Weil die Tertiärprävention sich vor allem auf bereits stark manifestiertes Verhalten bezieht, spielt sie in der allgemeinen Präventionsarbeit für Kinder und Jugendliche eine untergeordnete Rolle. 

Neben der Einteilung in diese drei Präventionsbereiche ist es sinnvoll, kontext- und personenorientierte präventive Maßnahmen zu unterscheiden. Kontextbezogene Maßnahmen richten sich auf die Verbesserung des sozialen Umfeldes. Personenzentrierte Maßnahmen fokussieren auf das Individuum und die jeweils eigenen Einstellungen, Handlungen und Überzeugungen.

In den folgenden Abschnitten werden Möglichkeiten vorgestellt, wie die Schule, Lehrkräfte und Schüler*innen Gewalt präventiv entgegen wirken können. Aber auch die Elternschaft, die allgemeine Öffentlichkeit und die jeweiligen Kultusministerien können in die Prävention miteinbezogen werden. 

Möglichkeiten für die Gewaltprävention in der Schule 

Partizipation

Partizipation im unmittelbaren Lebensumfeld und in den institutionellen Systemen ist ein wesentlicher Bestandteil von Demokratie. Kinder und Jugendliche sollen die Möglichkeit bekommen, sich zu beteiligen, denn sie haben das Recht, ihre Lebenswelt mitzugestalten. 

Partizipation meint also nicht, dass diese den jungen Menschen gewährt werden soll. Vielmehr haben sie das Recht auf Teilhabe an der Meinungs- und Entscheidungsbildung. Dieses Recht basiert auf bestehenden Menschenrechten, auf spezifischen Kinder- und Jugendrechten sowie auf den demokratischen Spielregeln. Partizipation bedeutet hier die Erweiterung der Meinungs- und Entscheidungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zulasten der Erwachsenen. 

§8, Abs. 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) liefert gesetzliche Grundlagen für die Umsetzung von Partizipation. Es besagt, dass Kinder und Jugendliche entsprechend ihres Entwicklungsstandes an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind. 

Des Weiteren heißt es im Kinder- und Jugendhilfegesetz, dass die Entwicklung junger Menschen mit entsprechenden Angeboten gefördert werden soll. Diese Angebote sollen an die Bedürfnisse und Interessen der Heranwachsenden anknüpfen und sie zur Mitbestimmung und Mitgestaltung befähigen. So können junge Menschen die Erfahrung gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialen Engagements machen (ebd., § 11 Abs. 1).

Angebote der Partizipation und andere Angebote des gesellschaftlichen Engagements sollen dazu beitragen, die Eigenverantwortung von Kindern und Jugendlichen zu fördern und zu erhalten. Dadurch können junge Menschen Selbstwirksamkeit erfahren und ihr Selbstbewusstsein stärken. Nicht zuletzt macht es ihnen zumeist Freude, sich wirksam an Prozessen beteiligen zu können. Entsprechende Partizipationsangebote sollten Kindern und Jugendlichen zudem die Möglichkeit geben, sich über ihre Erfahrungen und Meinungen mit Gleichaltrigen auszutauschen.

Demokratieerfahrung und Partizipation spielen in der Gewaltprävention eine wichtige Rolle. Wenn Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, dass Mitwirkung, demokratisches Handeln und Eigenverantwortung in der Schule und bei der Erziehung erwünscht sind und als wichtig empfunden werden, sind sie für Gewalt und Extremismus weniger anfällig (www.schulische-gewaltpraeventation.de).

Dies geht unter anderem aus Schulforschungs – Studien hervor, in denen der Zusammenhang zwischen Schulstrukturen und Gewaltverhalten untersucht wurde.

Peer Involvement 

Peer Involvement bezeichnet den Einsatz von Jugendlichen für Jugendliche zur Aufklärung, Beratung oder Projektgestaltung. Dieser Ansatz bietet eine weitere Möglichkeit für Partizipation. Es ermöglicht Jugendlichen, in eigenen Angelegenheiten Kompetenzen zu erwerben, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen und angeeignetes Wissen an andere Jugendliche weiterzugeben. Bei der Entwicklung von Peer Involvement-Projekten können die Bedürfnisse, Meinungen und Wünsche junger Menschen mitberücksichtigt werden. So können die Jugendlichen selbst festlegen, was sie für ihre Entwicklung wichtig finden. 

Voraussetzung hierfür ist, dass Jugendliche und Erwachsene die Programme gemeinsam entwickeln. Die Jugendlichen sollen nicht von Erwachsenen instrumentalisiert und für bereits definierte Ziele der Erwachsenen eingesetzt werden. Vielmehr entstehen positive Effekte, wenn Jugendliche und Erwachsene gleichberechtigt und partnerschaftlich die Ansätze entwickeln (vgl. Strauss, 2012). 

Somit stellt die Partizipation von Jugendlichen eine Art der Gewaltprävention dar. Zum einen können Jugendliche ihre Probleme und Interessen selbst benennen. In Peer-Projekten können sie lernen, konstruktiv damit umzugehen und die Vertiefung der Probleme sowie weiterführende Konflikte zu vermeiden. Auch können sich ihre Kompetenzen und Spielräume erweitern: Die Jugendlichen können ihre Angelegenheiten vermehrt selbständig und letztendlich ohne Erwachsene regeln. 

Schließlich werden Jugendliche auf diese Weise befähigt, ihre Bedürfnisse nach außen zu vertreten. Dadurch erlernen sie einerseits soziale Verantwortung. Andererseits erfahren sie soziale Anerkennung – sowohl von anderen Jugendlichen als auch von Erwachsenen. Partizipative Strukturen können sich somit förderlich auf die Entwicklung auswirken. 

Empowerment 

Das Empowerment-Konzept hat seinen Ursprung in dem Civil Rights Movement: der Bürgerrechts- und Selbsthilfebewegung der Black and People of Color (BPoC) in den USA. Im Deutschen kann Empowerment mit „Selbstbemächtigung“ oder „Selbstbefähigung“ übersetzt werden. Empowerment ist ein Handlungskonzept, das grundsätzlich in die Stärken der Menschen vertraut. Es orientiert sich an den Kompetenzen und Ressourcen von Individuen und soll einem defizitären Blick auf Personen entgegenwirken.

Das Empowerment-Konzept umfasst zwei Sichtweisen (vgl. Strauss, 2012):

Empowerment auf Personen gerichtet: Hier geht es um Personen, die sich in einer benachteiligten Situation befinden und die zu mehr Selbstbemächtigung und Selbstbefähigung gelangen sollen. 

Empowerment an professionelle Fachkräfte gerichtet: Hierbei werden Fachkräfte angehalten, im Sinne des Empowerments zu arbeiten. Das heißt einerseits, förderliche Strukturen zu schaffen und andererseits Zugang zu vorhandenen Ressourcen zu ermöglichen. 

Mit dem Fokus auf die Ressourcen und die Stärken der Einzelnen können neue Aufgaben für Fachkräfte und gleichzeitig ein neues Verhältnis zwischen ihnen und ihren Klient*innen entstehen. Hierbei geht es insbesondere darum, die Gleichberechtigung von Helfenden und Klient*innen anzuerkennen. Dadurch entsteht Arbeitsbeziehung auf Augenhöhe. 

Empowerment- steht in Verbindung mit der Gemeindepsychologie. Diese hat nicht nur die individuelle, sondern die soziokulturelle Ebene im Blick. Als Konzept wurzelt Empowerment in dem Verständnis von Gemeinschaft und der Stärkung sozialer Netzwerke (ebd.)

Sozialatmosphäre

Die Schulforschung hat den Zusammenhang zwischen der Sozialatmosphäre an der Schule und dem Gewaltverhalten von Schüler*innen analysiert. Problematisch sei demnach vor allem, dass die Bindung von Schüler*innen an Lerngruppen fehle, der Gruppenzusammenhalt gering sei und gleichzeitig eine konkurrenzorientierte Atmosphäre herrsche. Positiv wirke sich demnach aus, wenn Schüler*innen und Lehrkräfte gut miteinander auskommen. Das ist vor allem dann gegeben, wenn die Schüler*innen sich von den Lehrkräften ernst genommen fühlen und Akzeptanz und Wertschätzung das Verhalten bestimmen – der Lehrkräfte, aber auch der Schüler*innen (vgl. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention, 2007).

Gewaltpräventive Arbeit heißt also auch, soziale Bindungen und Beziehungen zu stärken. Dazu zählt, stabile Freundschaften und der Schüler*innen zu fördern und den jungen Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie in ihrer Individualität akzeptiert werden. Hierfür müssen die sozialen Kompetenzen aller gefördert und ausreichend Angebote zur Verfügung gestellt werden, um Konflikte angemessen aufzuarbeiten.

Dem gegenüber wurde analysiert, dass strenge Regeln, Einschränkungen und Bestrafungen eine gewaltfördernde Sozialatmosphäre begünstigen.

Hierfür bietet sich der Ansatz des Sozialen Lernens als präventive Methode an. In den letzten Jahren haben sich besonders Ansätze wie „Anti-Mobbing“ und „Klassenrat“ entwickelt. In vielen Schulen sind sie bereits fest integriert im Schulalltag. Sie umfassen zum Beispiel:

  • Klassenrat, durchgeführt durch Sozialarbeiter*innen oder Lehrkräfte
  • Ausbildungen zu Klassenratsmoderator*innen ab Klasse 6
  • Klassenrat, durchgeführt durch Schüler*innen und Klassenratsmoderator*innen 
  • Das Projekt „Herausforderung Gewalt“ in Kooperation mit der Polizei
  • Konfliktlots*innen-Ausbildung
  • Projekt: Faustlos
  • Anti-Mobbing-Programme

Sowie auf der Schul- und Lehrkraftebene:

  • Anti-Mobbing-Leitfäden für Lehrer*innen
  • Ausgebildete Lehrkräfte als Mobbing-Berater*innen
  • Gesprächsleitfaden zum Umgang mit Konflikten
  • Psychologische Erste Hilfe für von Gewalt betroffene Personen
  • Deeskalationstraining

Transkulturelles Verständnis für Kinder mit Fluchterfahrung 

Insbesondere intersektionale Konzepte betonen, wie unterschiedlich und dezentral individuelle Lebensverläufe sind. Sie gehen daher von Transnationalität, Transkulturalität und Mehrsprachigkeit als Norm aus. Wichtig ist ein solches transkulturelles Verständnis insbesondere für Kinder mit Fluchterfahrung.

Die Gründe für Flucht und Migration, ihr Verlauf und die konkrete Form, die sie annehmen, sind unterschiedlich. Die betroffenen Personen haben verschiedene soziale Hintergründe, sie sind unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Insgesamt dürfen sich staatliche Institutionen wie die Schule immer mehr auf Vielfalt einstellen. Die von Vielfalt und Heterogenität geprägte Gesellschaft ist heute normal. Das spiegelt die Schule wider.

Ein Erfahrungsbericht aus dem Pilotprojekt „Transkulturelle Gewaltprävention und Gesundheitsförderung“ in Wien hat gezeigt, dass Lehrer*innen durch neues Kontextwissen zu verschiedenen Kulturen sicherer und erfolgreicher ihre pädagogische Arbeit bewältigen. (Vgl. Ruschmann, Barakat, 2015). Kontextwissen zu verschiedenen Kulturen hilft demnach den Pädagog*innen, im Schulalltag angemessen auf Situationen zu reagieren und Lösungen für komplexe Situationen zu finden, ohne auf Stereotype und Vorurteile zurückzugreifen. Im Gegensatz zu einem traditionellen Kulturverständnis fördert ein transkulturelles Verständnis darüber hinaus die Chancengleichheit unter Kindern. Das liegt daran, dass ein solches Verständnis auf Hierarchisierungen zwischen unterschiedlichen Kulturen verzichtet. 

In der transkulturellen Perspektive geht es nicht darum, Differenzen zu unterstreichen. Vielmehr sollen Hintergründe benannt und verstanden werden. Kontextwissen zu den unterschiedlichen Kulturen beinhaltet daher auch Hintergrundwissen zu Migration, Rassismus, Diskriminierung und der jeweiligen ökonomische Situation der Menschen. 

Um Mikroaggressionen im Schulalltag und aggressives Verhalten zu verhindern, sind Leitlinien und Schulungen für Lehrkräfte geeignet, die Empfehlungen für einen positiven Umgang mit Vielfalt umfassen. Beispielsweise könnte in einem solchen Leitfaden festgehalten werden, dass Zuschreibungen zu bestimmten Gruppen Kategorisierungen verstärken. Zuschreibungen wirken erfahrungsgemäß kontraproduktiv. Für Kinder und Jugendliche kann es sehr herausfordernd sein, kategorisiert und stigmatisiert zu werden. Diese Erfahrung kann sich negativ auf ihr Empfinden und folglich auf ihr Sozialverhalten auswirken (Vgl. Ruschmann, Barakat 2015)

Wichtig ist ebenfalls, dass sich alle Kinder mit ihren Lebensrealitäten in Büchern und Arbeitsmaterialien wiedererkennen. So entwickeln Kinder mehr Selbstbewusstsein in Hinblick auf ihre soziale Herkunft. Auf diese Weise können insbesondere Kinder aus gesellschaftlich diskriminierten Gruppen gestärkt werden. 

Auch Armut kann und sollte proaktiv in die Präventionsarbeit mit einbezogen werden. Je mehr Personen in ihren Lebensrealitäten bedacht werden, umso mehr wird ihre Teilhabe berücksichtigt. Ähnlich wie bei den bereits genannten gewaltpräventiven Ansätzen stärkt diese das Gefühl von Zugehörigkeit in einer Gemeinschaft und die Erfahrung sozialen Miteinanders. 

Im Sinne eines intersektionalen Ansatzes ist es empfehlenswert, generell zum Thema „Verschiedensein“ zu arbeiten. Denn dieser Ansatz knüpft an die Lebensrealität von Kindern an und berücksichtigt die Wechselwirkungen verschiedener sozialer Kategorien.

Die 7 Säulen der Neuen Autorität nach Haim Omer – Gewaltpräventives Modell am Beispiel Schule

Der israelische Psychologe und Familientherapeut Haim Omer forscht im Bereich Gewaltprävention und Frieden. Er entwickelte das Modell der Neuen Autorität mit ihren sieben Säulen und schuf daraus einen Ansatz für die Gewaltprävention an Schulen. Die sieben Säulen werden im Folgenden vorgestellt (Vgl. Omer, Haller, 2020):

1. Präsenz

Präsenz bedeutet, im guten Kontakt mit sich selbst zu sein und sich zu entscheiden, anwesend und wirklich da zu sein. Im Sinne der Neuen Autorität bedeutet es auch, als erwachsene Person die Verantwortung für die Beziehungsqualität zu übernehmen und für die Einhaltung von Werten und Regeln des Zusammenlebens einzustehen – anderen Personen respektvoll, wertschätzend und gewaltfrei gegenüberzutreten.

2. Selbstkontrolle und Eskalationsvorbeugung

Selbstkontrolle bedeutet in diesem Zusammenhang, sich dessen bewusst zu sein, dass wir über andere Personen keine Kontrolle haben. Lehrkräfte haben keine Kontrolle über Kinder und Jugendlich, Eltern haben keine Kontrolle über die eigenen Kinder. Das ist auch nicht notwendig. Eine Person kann nur die Kontrolle über sich selbst haben, über die eigenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen. Jede Person kann somit selbst entscheiden, wann und wie sie auf eine Provokation oder einen Konflikt reagiert. Nach dem Prinzip Aufschub heißt es in dem Modell: „Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist“, anders als in dem bekannten Sprichwort. Gemeint ist, dass Krisensituationen nicht geeignet sind, um die Beziehung zu jungen Menschen positiv zu gestalten.

Eine Form der Eskalationsvorbeugung ist es demnach, sich die eigene Haltung bewusst zu machen und zu prüfen, ob es den Drang gibt, zu gewinnen oder Recht zu haben. Eine derartige Haltung wird die Situation eskalieren. Nach dem Prinzip Beharrlichkeit ist der Leitsatz in diesem Fall: Nicht besiegen, sondern beharren. Nach dem Prinzip Positive Fehlerkultur beinhaltet dies auch, sich einzugestehen, dass Fehler gemacht werden können und diese in Ordnung sind. In den meisten Fällen können Fehler korrigiert werden, etwa in Form von Entschuldigungen. 

3. Unterstützungsnetzwerke und Bündnisse

Das Motto hier ist: Wir sind nicht allein auch wenn Institutionen sich manchmal sehr isoliert fühlen. Unterstützung nutzen und Netzwerke aufbauen ist ein zentraler Aspekt der Neuen Autorität. „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, lautet vergleichsweise ein afrikanisches Sprichwort. Es ist wichtig, Menschen und Teams dabei zu begleiten, sich gegenseitig zu unterstützen. Dabei sollte jede Person nach ihren Möglichkeiten eingebunden und, falls notwendig, weitere Unterstützer*innen hinzugezogen werden. Bei Interventionen des gewaltlosen Widerstandes (siehe folgender Punkt) kann diese Unterstützung beispielsweise zu einer großen Entlastung und Verbesserung der Lebenssituation führen.

4. Protest und gewaltloser Widerstand

Wenn mehrere Personen entschlossen handeln, hat das erfahrungsgemäß mehr Kraft. Bei den Handlungsmöglichkeiten des gewaltlosen Widerstands geht es vor allem darum, Entschlossenheit und Verbundenheit sichtbar zu machen. Dabei werden alle am Konflikt beteiligten Personen miteinbezogen – auch die Person, die Gewalt ausgeübt hat. 

Der gewaltlose Widerstand kann enorme Wirkung auf das Gegenüber haben. Beispielsweise kann ein zweistündiges Sit-in der Eltern bei ihrem wütenden Kind verdeutlichen: „Wir akzeptieren dein gewalttätiges Verhalten nicht, aber wir sind bei dir, weil du uns wichtig bist und wir an der Lösung und Veränderung interessiert sind.“ So ein Ansatz kann auf die Schule übertragen werden. 

5. Versöhnung und Beziehung

Beziehung ist die wichtigste Ressource: Auf diese Annahme baut jede Intervention der Neuen Autorität auf. Wichtige Interventionen sind demnach alle beziehungsstiftenden Gesten, wertschätzenden Rückmeldungen und Gesten der Versöhnung. Die Interventionen sollen deutlich machen: Wir sind interessiert an Dir und an einer guten Beziehung zu dir, auch wenn es Schwierigkeiten gibt. Eine solche Haltung ist auch und vor allem dann wichtig, wenn Schüler*innen oder Kolleg*innen problematische Verhaltensweisen zeigen.

6. Transparenz

Partielle oder gänzliche Transparenz kann viel bewirken: Sie mobilisiert Unterstützung und bewegt Dritte, teils auch feindselig gestimmte Personen und Gruppen, eine klare, gewaltfreie Position einzunehmen und sich der „guten Sache“ anzuschließen. Transparenz kann auch das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken – vorausgesetzt, die inneren Haltungen und Handlungsweisen werden als ethisch-moralisch in Ordnung und notwendig erachtet.

7. Wiedergutmachungen

Wiedergutmachungen sind die neue Alternative zu Strafen und Sanktionen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Strafen und Sanktionen bei Konflikten aller Art oftmals nicht zu den gewünschten Lerneffekten führen.

Durch gut begleitete Wiedergutmachungsprozesse kann es gelingen, bei den betreffenden Personen die Einsicht in ein begangenes Unrecht zu ermöglichen. Gleichzeitig können sie durch Wiedergutmachung zum konstruktiven Verhalten angeregt werden.

So können die betroffenen Personen aktiv einen Beitrag leisten und wieder vollwertige Mitglieder der Gruppe werden, zum Beispiel in der Schule. Geschädigte können ernst genommen werden. Erwachsene, die solche Prozesse der Wiedergutmachung begleiten, gewinnen an Respekt, weil ihre Konfliktlösungskompetenz sichtbar wird.

Quellennachweise:

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