Stress und Angst sind ungesund

Gewalterfahrungen von Frauen* während der Lockdowns

von Lena Grabowski
Gewalterfahrungen von Frauen* und Kindern (auch von männlich gelesenen Personen, wenngleich vergleichsweise niedrige Zahlenwerte in die Statistiken eingehen) sind nach wie vor tabuisierte Themen, da sie oftmals nur schwer auszuhalten sind. Dennoch verzeichnen die Statistiken jährliche Steigerungen. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich mittlerweile mehr Frauen* (und auch Kinder) in den Hilfesystemen melden als es früher der Fall war. Als Traumatherapeutin habe ich oftmals mit Folgen durch erlebte Gewalterfahrungen zu tun. Hierunter fallen häufig Erfahrungen der körperlichen und sexualisierten Gewalt. Personen, die bereits sehr frühe Trauma – Ereignisse in diesem Kontext erlebt haben, können diese im Verlauf ihrer Biografie wiederholen, was zu sogenannten Retraumatisierungen führen kann. Es ist möglich, dass die in der Entwicklungsphase Kindheit und Jugend erlebten Trauma-Ereignisse dazu führen, dass später ähnliche Beziehungen geführt werden, in denen die Gewalt erneut erfahren wird.
Die Folgen von Gewalt können für die Seele eines Menschen, nachweislich auch für neuronalen Strukturen im Gehirn, verheerend sein. Die Aufarbeitungsprozesse können viele Jahre in Anspruch nehmen. Symptome beispielsweise der Posttraumatischen Belastungsstörung, wie Ängste, depressive Verstimmungen, Schlafstörungen oder auch Alpträume, Schreckhaftigkeit – um nur einige zu nennen, als auch das Phänomen der Dissoziation (Anm. d. Red.: teilweise oder völliger Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen) können Folgen sein. 
Dass während der Lockdown – Maßnahmen eine grundsätzliche Gefahr bestand, dass aufgrund massiver wachsender Spannungsverhältnisse sich auch die Gewaltbereitschaft erhöhen könne, stand im Diskurs der Psychotherapie und Sozialen Arbeit und wurde weitestgehend befürchtet. Im ersten Lockdowm 2020 waren bereits Ende April deutschlandweit die Frauenhäuser überlastet. Frauen*, die mit Kindern den Schritt wagten, von zuhause zu fliehen, konnten teilweise nicht aufgenommen werden und wurden zurückgeschickt. Dass im Bereich der Aufklärung, der Gewaltprävention und einer Stärkung von Frauen*- und Kinderrechten politisch und gesellschaftlich noch mehr getan werden darf, ist unumstritten!

Studie über Gewalterfahrungen von Frauen* im ersten Lockdown

Janina Steinert, Professorin für Global Health an der Technischen Universität München (TUM), und Dr. Cara Ebert vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung haben rund 3.800 Frauen* zwischen 18 und 65 Jahren online nach ihren Erfahrungen im Kontext häuslicher Gewalt befragt. Die Personen wurden zwischen dem 22. April und 8. Mai 2020 nach dem vorangegangenen Monat befragt, ob sie in diesem Zeitraum Betroffene von häuslicher Gewalt wurden. Hierbei handelte es sich also genau um jenen Zeitraum, in dem die strengsten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen in Deutschland galten: der erste Lockdown im Frühjahr 2020.

Um zu vermeiden, dass die Frauen* bei besonders stigmatisierten Themen wie sexualisierter Gewalt ungenaue Antworten geben, wandten die Wissenschaftlerinnen* eine indirekte Messmethode an. Dadurch, dass die Fragen zu Gewalterfahrungen nicht direkt gestellt wurden, könne das Dunkelziffer-Problem umgangen werden, heißt es in der Studie.

Auswertung:

  • 3,1 % der Frauen* in Deutschland wurden in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen Betroffene körperlicher Gewalt im eigenen Zuhause.
  • 3,6 Prozent wurden von ihrem Partner zum Geschlechtsverkehr gezwungen.
  • In 6,5 Prozent aller Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft.
  • Fast 5 Prozent der Partner regulierten die Kontakte der Frauen*.
  • 3,8 Prozent der Frauen* erlebten emotionale Gewalt und fühlten sich von ihrem Partner bedroht.
  • 2,2 Prozent duften ihr Haus nicht ohne die Erlaubnis des Partners verlassen.
  • In 4,6 Prozent der Fälle regulierte der Partner Kontakte der Frauen* mit anderen Personen, auch digitale Kontakte, zum Beispiel über Messenger-Dienste.

Lockdown-Maßnahmen förderten das Gewaltpotenzial – heißt es

Während der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wuchs die Sorge, dass insbesondere Frauen* und Kinder unter häuslicher Gewalt leiden könnten. Doch da nicht alle Betroffenen Anzeige erstatten oder Hilfsangebote nutzen, bleibt die tatsächliche Dimension im Dunkeln.

Waren die Frauen* in Quarantäne oder hatten die Familien finanzielle Sorgen, lagen die Zahlen deutlich höher. Nur ein sehr kleiner Teil der betroffenen Frauen* nutzte Hilfsangebote. Aus diesen Risikofaktoren leiten die Wissenschaftlerinnen mehrere Empfehlungen für bestehende und eventuelle künftige Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen während „weiterer Wellen“ der Pandemie ab:

„Es sollten Notbetreuungen für alle Kinder geschaffen werden, die nicht nur den Eltern in systemrelevanten Berufen zur Verfügung stehen“, sagt Janina Steinert. „Da Depressionen und Angstzustände das Gewaltpotential erhöhen, sollten psychologische Beratungen und Therapien auch online angeboten und ohne Hürden genutzt werden können. Frauenhäuser und andere Stellen, die Hilfen anbieten, müssen systemrelevant bleiben.“

In Familien, in denen einer der Partner aufgrund der Pandemie in Kurzarbeit war oder seine Arbeit verlor, erlitten laut der Befragung:

  • 5,6 Prozent der Frauen* und 9,3 Prozent der Kinder körperliche Gewalt.

Überdurchschnittlich stark fiel die Gewalt auch in Familien mit jüngeren Kindern unter zehn Jahren aus, wo:

  • 6,3 Prozent der Frauen* und 9,2 Prozent der Kinder betroffen waren.

Am stärksten ausgeprägt war die Gewalt in Familien, wo ein Partner Angst oder Depressionen hatte:

  • 9,7 Prozent der Frauen* und 14,3 Prozent der Kinder wurden  Betroffene von Gewalt.

Hilfsangebote für Frauen*

Die Wissenschaftlerinnen fragten zudem, ob die betroffenen Frauen* Hilfsangebote kennen und genutzt haben:

  • 48,2 Prozent der Betroffenen kannten die Telefonseelsorge. 3,9 Prozent hatten dort angerufen.
  • 32,4 Prozent kannten das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen*“. 2,7 Prozent hatten sich dorthin gewandt.
  • 44,3 Prozent kannten das Elterntelefon. 21,5 Prozent hatten dort Hilfe gesucht.
  • 5,5 Prozent kannten die Aktion Codewort „Maske 19“, bei der Apotheken die Behörden verständigen, wenn eine Kundin dieses Codewort sagt. 1,8 Prozent hatten diese Möglichkeit genutzt.

„Wenn Frauen* durch ihre Partner kontrolliert werden, ist es für sie meist schwierig, telefonische Beratungsangebote zu nutzen. Hilfe sollte auch online angeboten werden, per Chat, Messenger und E-Mail“, empfiehlt Cara Ebert. „Die bestehenden Hilfsangebote müssen zudem besser in der Öffentlichkeit beworben werden, zum Beispiel durch viele große Plakate in Supermärkten, Apotheken, in öffentlichen Verkehrsmitteln, an öffentlichen Plätzen sowie durch Onlineanzeigen.“

Statistische Auswertungen zu Partnerschaftsgewalt

Alle 45 Minuten wird eine Frau* Betroffene vollendeter oder versuchter schwerer Körperverletzung durch den Partner, Ehemann oder einen Expartner. Fast jeden 3. Tag gibt es einen Femizid. Das zeigen Zahlen aus der Kriminalstatistischen Auswertung zu Partnerschaftsgewalt 2019 des Bundeskriminalamtes.

Dies sind nur gemeldete Fälle (die BKA-Zahlen für 2020 werden noch ausgewertet). Bundesfamilienministerin Franziska Giffey von der SPD geht von einer hohen Dunkelziffer aus: 75 bis 80 % der Fälle werden nicht gemeldet.

Laut BKA-Bericht sind etwa 142.000 Menschen im Jahre 2019 in Deutschland Betroffene von Gewalt geworden. Entweder durch ihren Partner oder den Ex-Partner. Die Zahl der registrierten Fälle ist im Vergleich zum Vorjahresbericht 2018 leicht gestiegen. In 117 Fällen sind Frauen* durch häusliche Gewalt gestorben, in 32 Fällen starben auch Männer*.

Hessen als Vorzeigemodell für Schutz- und Hilfsangebote für Frauen*

Der Hessische Landtag hat zum Schutz von Frauen* und Kindern vor Gewalt in Zeiten der Corona-Pandemie zu einem Fachtag einberufen. Hessens Sozial- und Integrationsminister Kai Klose erklärt: „Es ist eines der wichtigsten Ziele der Hessischen Landesregierung, Frauen* und Kinder während der Lockdowns zu schützen und zu unterstützen. All jene, die Opfer von jeglicher Form von Gewalt geworden sind und traumatisierende Erfahrungen erleiden mussten. Denn jeder Mensch hat das Recht, gewaltfrei zu leben. Wir statten Einrichtungen des Kinder- und Frauen*schutzes deshalb finanziell besser aus und wappnen sie so für die besonderen Anforderungen der Pandemie.“

Schutzsysteme für häusliche Gewalt an Frauen*

„Gerade während der Phase der intensiven Kontaktbeschränkungen während der Pandemie bestand die große Sorge, Frauen* und Kinder könnten verstärkt unter häuslicher Gewalt leiden“, erklärt Kai Klose weiter. Erste Studienergebnisse der Technischen Universität München und des RWI – Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung belegten eine Zunahme häuslicher Gewalt und den erschwerten Zugang zu Hilfe während der Corona-Pandemie (Ergebnisse siehe weiter oben).

Zugleich sei im Bereich der häuslichen Gewalt das Dunkelfeld ohnehin groß. „Vor diesem Hintergrund war uns von Beginn an besonders wichtig, dass alle Menschen wissen: Unsere Schutzsysteme stehen trotz Corona bereit und sind erreichbar. Deshalb haben wir schon am 9. April auf die vielfältigen Hilfsangebote für Opfer von häuslicher Gewalt, die in Hessen verfügbar sind, hingewiesen“, sagt der Sozialminister.

Besondere Herausforderungen für Frauen* während der Lockdowns

Sämtliche Einrichtungen des Frauen*unterstützungssystems und des Kinderschutzes stehen in jedem Lockdown vor besonderen Herausforderungen, die nötigen technischen und räumlichen Umstellungen, doch auch den Ausbau der Angebote sicherzustellen.

„Dabei wollen wir unterstützen. Wir helfen den Einrichtungen, ihre pandemiebedingten Kosten abzufedern und den wachsenden hygienischen Vorgaben gerecht zu werden. Das Land stellt hierfür drei Millionen Euro bereit“, laut Kai Klose. Auch mit dem Programm „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ des Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration könnten zudem bestehende Angebote des Kinder- und Frauenschutzes vom Land gefördert werden.

„Politik für von Gewalt betroffene Frauen* und deren Kinder findet in allen Gesellschaftsbereichen statt. Der Landespräventionsrat als Sachverständigengremium der Landesregierung ist dabei ein wesentlicher Partner. Gemeinsam mit Fachkräften aus dem Frauenschutzsystem, dem Kinderschutz, der Männerberatung und Täterarbeit, der Kommunen und des Justiz-, des Innen- und Sozialministeriums wurde eine Vielzahl von Empfehlungen erarbeitet“, ergänzt Klose.

Hessen setzt auf Gewaltprävention

Das Land setze vor allem auf Prävention, um Gewalt gegen Frauen* und Kinder von vornherein zu verhindern. „Deshalb unterstützen wir als Land die Arbeit der Beratungsstellen mit jährlich über acht Millionen Euro. 2020 und 2021 werden zusätzlich 400.000 Euro für die Etablierung eines Childhood Hauses in Hessen sowie 800.000 Euro für die Unterstützung der Kinderschutzambulanz des Universitätsklinikums Frankfurt am Main bereitgestellt“, erklärt der Sozialminister.

Das Land Hessen finanziert eine Reihe von Modellprojekten zur Prävention und zum besseren Schutz von Frauen* vor Gewalt. Zur gewaltsensiblen, gesundheitlichen Versorgung und zur verfahrensunabhängigen Beweissicherung.

In diesem Jahr steht erstmals über eine Million Euro für Einzelmaßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen* und häusliche Gewalt zur Verfügung. „Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass Frauen*häuser sowie Beratungs- und Interventionsstellen entsprechend der Istanbul-Konvention weiter gefördert werden.

Damit sie sich baulich erneuern und ihre Kapazitäten erweitern können, stehen für Hessen bis 2023 jährlich rund 2,1 Millionen Euro aus dem Bundesförderprogramm ,Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen‘ zur Verfügung. Wir als Land ergänzen sie ab nächstem Jahr durch investive Mittel. Mit all diesen Maßnahmen möchten wir bekräftigen, dass es uns in der aktuellen Situation besonders wichtig ist, die Arbeit der spezialisierten Fachkräfte im Kinderschutz, der Frauen*beratungsstellen und -notrufe sowie auch der Frauen*häuser wertzuschätzen und anzuerkennen“, so Klose abschließend.

Undercover im Internet für Frauen*

Etwa 40.000 Frauen* flüchten jährlich, teils zusammen mit ihren Kindern, in eines von insgesamt 400 Frauen*häusern in Deutschland. Im Nachbarland Polen steigen die Fallzahlen jährlich. Unabhängigen Quellen zufolge werden dort etwa 800.000 Menschen jährlich Betroffene von häuslicher Gewalt.

Häusliche Gewalt ist in der Gesellschaft immer noch ein Tabuthema. Personen, die Gewalt ausüben, können Betroffene auf eine Weise unterdrücken, dass sie sich oftmals nicht trauen, sich an externe Stellen zu wenden und um Hilfe zu bitten.

Die Abiturientin* Krystyna Paszko aus Polen entwickelte während der Lockdowns eine höchst kreative Idee, wie man diesen Menschen – in den meisten Fällen Frauen* – schnell und wirksam helfen konnte. Sie hat eine Internet – Seite entwickelt, die wie ein Kosmetik-Online-Handel aussieht. Hier konnten (und können noch immer) sich Frauen*, die Betroffene von Gewaltvorfällen geworden sind, Kosmetikprodukte und mehr bestellen.

Creme bestellt – Polizei vor der Tür!

Auf der als Kosmetik-Shop getarnten Webseite wirkte alles sehr seriös und echt. Bestellte man jedoch bei „Rumianki i bratki – Kamille und Stiefmütterchen“ eine der Cremes oder Salben für sehr empfindliche Haut, hat die Bestellung dazu geführt, dass die Polizei geordert wurde. Denn jede Bestellung ist ein digitaler und getarnter Hilferuf gewesen.

Beratungschat deckt Probleme auf

Wer auf der Webseite ein Produkt in den Warenkorb legte, hatte so auch die Möglichkeit, mit einer Beraterin* zu chatten. Ein als Verkaufsgespräch getarntes Beratungsgespräch, in dem die häuslichen Probleme aufgedeckt wurden und erste Hilfsangebote entwickelt wurden.

„Frauen* schrieben oft über unterschiedlichen Allergien, die zum Beispiel vom Waschpulver verursacht werden, und was man dagegen tun kann. So führten wir ein erstes klärendes Gespräch. Wir fragten nach, ob es nur eine Waschpulversorte ist, ob das Reinigungsmittel Alkohol beinhaltet, ob die anderen Familienmitglieder auch an Allergien leiden.“ erzählt die Psychologin Monika Perdjon.

Die Psychologin* Monika Perdjon hat sich, wie viele weitere Psycholog*innen, Jurist*innen und Webgestalter*innen, dem Web-Projekt angeschlossen. Lob und Anerkennung gab es von der EU für diese Idee. Für ihr Engagement wurde die inzwischen 18-jährige Krystyna Paszko im Februar 2021 mit dem zivilen Solidaritätspreis der Europäischen Union ausgezeichnet.

Krystyna Paszko: “Das Ziel des Projektes ist gewesen, Betroffenen von häuslicher Gewalt zu helfen, die sonst nicht in der Lage gewesen sind, sich selbst Hilfe zu holen.“ Und der Erfolg gab ihr Recht: sie und ihr Team konnten über 400 Frauen* bereits helfen.

Hilfesysteme:

https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/hilfe-und-vernetzung/hilfesystem-und-vernetzungsstellen-80640

www.frauenberatung-tara.de

www.frauen-gegen-gewalt.de

 

Quellen:
Technische Universität München
www.de.statista.com
Hessisches Ministerium für Soziales & Integration
SZ Magazin