Dieser Artikel ermöglicht einen Einblick in die Komplexität von Kriegstraumatisierungen. Er erzählt von der Notwendigkeit, unseren Mitmenschen aus Kriegsgebieten die Hände zu reichen und ihnen mitfühlend zu begegnen. Politiker*innen, die in jedweder Form einen Krieg unterstützen, müssen wissen, dass sie damit ganze Nationen verwunden und transgenerationale Traumageschichte schreiben.
Von Lena Grabowski
Was hält eine Seele aus? Warum gibt es Kriege? Wie übersteht eine menschliche Psyche diese komplexe Herausforderung? Und wie tief graben sich Kriegserlebnisse in das Gedächtnis? Wann kehren sich all diese Erlebnisse und Erinnerungen in posttraumatische Belastungssymptome um? Und gibt es eine Chance, dass solch komplexe Verwundungen jemals ausheilen?
Es ist Krieg
Rollende Panzer, explodierende Raketen, zerstörte Häuser. Wochenlanges Verharren in U-Bahn Schächten, Kellern und anderen Verstecken. Morde. Kriegstrümmer. Extremerfahrungen auf den Fluchtwegen wie Verfolgung, Hungern, Vergewaltigung, Folter, Menschenhandel, Mord, Raub, Überfälle, Ausbeutung, Rassismus und mehr. Und all das betrifft im Krieg jeden Menschen in jeder Altersstufe, vom Säugling bis zu ganz alten Personen.
Nicht nur die jetzt ankommenden Menschen aus der Ukraine sind kriegsgezeichnet. Es sind auch diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten aus dem Irak, aus Afghanistan und aus Syrien flohen (und noch immer fliehen) und in den vergangenen Jahren in Deutschland und anderen Ländern Zuflucht gefunden haben. Sie werden auch jetzt noch von ihren Erinnerungen an Krieg, Gewalt, Folter und weiteres zutiefst Unmenschliches eingeholt.
Und es betrifft weltweit alle aus Kriegsgebieten Geflohenen, Soldaten*innen sowie die Generationsältesten in unserem Land, die ihre wertvolle Lebenszeit dem zweiten Weltkrieg opfern mussten. Komplextraumatische Erlebnisse, wie es bei Geflüchteten aus Kriegsgebieten oftmals der Fall ist, können langfristig die seelische und körperliche Gesundheit der Betroffenen immens beeinflussen und eine erfolgreiche Integration in die Aufnahmegesellschaften erschweren. Nach der Flucht müssen die Menschen im Aufnahmeland neben den oftmals unverarbeiteten traumatischen Erlebnissen in der Vergangenheit mit unzähligen Alltagsproblemen und Zukunftssorgen kämpfen:
Wo werde ich wohnen? Kann ich arbeiten? Welche Schule können meine Kinder besuchen? Zu finanziellen Sorgen kommt meist die Frage, ob ein langfristiger Aufenthalt im Land überhaupt möglich sein, oder ob man nicht doch eines Tages wieder ins eigene Land zurückgeschickt wird.
„Wir haben überlebt“
Geflüchtete aus Kriegsgebieten sind erfahrungsgemäß dankbar für alle Angebote, die ihre ganz nackten, existenziellen Bedürfnisse nach einem Dach über dem Kopf, Wärme und etwas zu essen und zu trinken stillen. Dem Überlebenswillen sei Dank haben sie es bis in ein anderes Land geschafft, mit einem hoffnungsvollen Restfunken im Herzen auf eine neue Zukunft. Und meist mit einer damit einhergehenden Unsicherheit, ob und wie es hier weitergehen wird.
Doch was ist das eigentlich Schwerwiegende in ihrer Seele? Es sind diese tiefen Nachwehen nackter, kriegsbedingter Existenz- und Todesangst. Aufwühlende innere Bilder von zerbombten Wohngebieten und Sozialräumen. Ungefilterte Erinnerungen an blutüberströmte Kriegsverletzte und getötete Zivilisten, bekannte und unbekannte Mitmenschen. Da ist dieser mehrfache Verlustschmerz, diese Risse im Herzen, weil Freunde*innen und Familienangehörige nicht mitfliehen konnten (oder wollten) – oder dem Krieg bereits zum Opfer gefallen sind. Da ist dieses Gefühl, die eigene Heimat verloren zu haben. Fremd in einem anderen Land zu sein. Und die zermürbenden Erinnerungen an einen Fluchtweg, der zunächst als hoffnungsvoller, überlebenssichernder Ausweg gedacht war und dann zu einer weiteren zutiefst entwürdigenden Erfahrung wurde. In meiner traumasensiblen Arbeit mit Geflüchteten höre ich sie oftmals sagen: „Wir haben überlebt, das ist die Hauptsache“. Und ja, zunächst ist das das Allerwichtigste.
Kriegsverwundungen sind komplex
Um das Dilemma von komplextraumatisierten Menschen aus Kriegsgebieten und die Dringlichkeit, uns ihnen mitfühlend, achtsam und professionell zuzuwenden, zu verdeutlichen, möchte ich etwas Persönliches aus meiner traumatherapeutischen Arbeit teilen.
Über einige Jahre habe ich traumasensible Projekte als auch Fallsupervisionen an Berliner Grundschulen geleitet, an denen geflüchtete Kinder aufgenommen wurden. Dort sollte ich Kinderschutzfällen als auch Kindern aus Kriegsgebieten traumasensibel helfen und die pädagogischen Fachkräfte in ihren Bemühungen um Integration unterstützen.
Ohne jegliches Fachwissen über Traumasymptome und entsprechende Interventionen, zeigten manche Lehrkräfte von Natur aus ein großen Herz. Sie verfügten über eine grundlegende Empathie und Beziehungsfähigkeit, was gerade für traumatisierte Kinder von unschätzbarem
Wert sein kann. Manch andere waren schlichtweg überfordert. Und so gesellten sich zu den Kriegs- und Fluchttraumatisierungen nicht selten auch Formen institutioneller Gewalt – sicherlich ungewollt und der eigenen Überforderung als auch dem Unwissen geschuldet. Das erschwerte den Schulalltag für alle Beteiligten enorm, allen voran den traumatisierten Kriegskindern.
Fast alles verloren – außer den Glauben
Mir wurde unter anderem ein Junge anvertraut, den ich nie vergessen werde. Er war zu diesem Zeitpunkt 8 Jahre alt und lebte seit knapp 2 Jahren gemeinsam mit seinem Vater in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin. Er war zirka 4 Jahre alt, als seine Familie aus einem Kriegsgebiet
fliehen wollte. Auf dem Fluchtweg hatten sie mit unzähligen schrecklichen Ereignissen zu kämpfen. Sie hungerten und hatten schrecklichen Durst. Sie wanderten durch Kriegstrümmer, voller Angst, jeden Augenblick sterben zu können. Sie lebten in Gefangenschaft des IS, wo die Mutter des Jungen auf tragische Weise verstarb. Wie durch ein Wunder überlebten der Vater und seine beiden Söhne die Gefangenschaft.
So kämpften sie sich durch mehrere Länder in beengten Transportmitteln wie Lastwagen, Bussen, Booten und Bahnen, um irgendwo in dieser Welt Zuflucht zu finden. Der Vater kämpfte bis zum letzten Augenblick um seine Familie. Und die Familie verlor dabei nahezu alles, was ihr Leben zuvor ausmachte. Ihr Zuhause. Die Ehefrau und Mutter verstarb. Sie gaben ihr soziales Gefüge auf, zur Flucht gezwungen. Der Vater gab sein letztes Hab und Gut, um mit seinen Kindern auf einem ungewissen Fluchtweg in ein Aufnahmeland zu gelangen, ohne Sicherheit, ob sie diese Reise überleben würden. Auf einer Etappe des Fluchtweges verstarb sein zweiter Sohn.
Er nahm jedes kriegsbedingte, zutiefst menschenverachtende Hindernis in Kauf – und gab nie auf.
Übrig blieben der Vater und sein jüngster Sohn. Sie überlebten und kamen irgendwann in einer Flüchtlingsunterkunft in Süddeutschland an und landeten letztendlich in Berlin. Es war eine Ankunft im Ungewissen. In einem Land ohne Sprachkenntnisse, ohne Visum. Und ohne Sicherheit, ob und wie lange sie bleiben dürfen.
Doch es gab etwas, das hatten die beiden währenddessen nicht verloren: ihren Glauben. Ich frage mich bis heute, wie es diesen beiden Menschen, die so komplexe Traumatisierungen erlitten hatten, gelungen war, sich genau diesen zu bewahren.
Traumasensibel begleiten bei der Suche nach Normalität
Es liegt auf der Hand, dass er und sein Vater dringend Normalität, Struktur und ein hohes Maß an Traumasensibilität, Freundlichkeit und Mitgefühl benötigten, wenn die Integration im neuen Land gelingen sollte.
Mit seinem Sohn malte und spielte ich meistens in der Schule. Er erzählte mir, wie sehr er das Meer und Fische mag. Wir malten viel, Seen, Flüsse und Meere und gaben den darin lebenden Fischen Namen. Malten ihnen sichere Verstecke. Das war über einen langen Zeitraum seine Lieblingsbeschäftigung. Ganz nebenbei sprachen wir über das, was ihm Freude bereitet, was er und sein Vater am Wochenende gemeinsam unternahmen. Wenn er mir von seinen Ausflügen erzählte, leuchteten und strahlten seine Augen. Sein größter Traum war, eines Tages ein eigenes Aquarium zu haben, mit Anemonenfischen. Und so versuchte ich möglichst viele Momente mit ihm zu erschaffen, in denen seine Augen leuchten konnten und er zuweilen etwas Freude und Erleichterung empfinden durfte.
Manchmal, da verlor er das Leuchten in seinen Augen. Da quälten ihn Erinnerungen, und er erwähnte ganz beiläufig, dass er nachts, wenn er nicht schlafen konnte, gerne mit einem großen Radiergummi alles wegradieren wolle, was ihn aufrege „in seinem Kopf“. Bei einem Ausflug kauften wir einen Radiergummi, den er sich fortan neben sein Kopfkissen legte. Einmal, da erzählte er mir, dass sein Vater ihn nachts manchmal in den Armen hielte und sie dann gemeinsam beteten. Bis es ihm wieder besser ginge.
Die Schule selbst war eine große Belastung für ihn. Was von den Schulen der Aufnahmeländer gut gemeint war, erwies sich als ein extrem herausforderndes Unterfangen für kriegstraumatisierte Kinder. Er, als auch viele andere Kinder aus den Kriegsgebieten, waren hypervigilant, schreckhaft, ängstlich, reizbar, angespannt, verunsichert, hatten häufig Kopfschmerzen, litten unter Übelkeit und wirkten misstrauisch.
In angespannten Situationen reagierte A. hoch emotional und begann entweder zu schreien oder aus dem Raum zu laufen. Mithilfe diverser kindgerechter traumasensibler Ansätze übte ich mit ihm, sich in überlastenden Zuständen selbst zu beruhigen oder auch zu erkennen, wann es gut ist, die Situation frühzeitig zu verlassen. Mit den Lehrkräften handelte ich Schutzräume aus, in denen er sich selbstbestimmt zurückziehen durfte, wann immer er sich überfordert fühlte.
Damit Vater und Sohn eine Chance auf eine neues, lebenswertes Leben haben, sind vor allem wertschätzende und positive Erfahrungen notwendig. In den ersten Wochen, Monaten, vielleicht auch im ersten Jahr kann es sinnvoll sein, die Vergangenheit für eine Weil „ad acta“ zu legen. Doch wer so viele einschneidende und menschenverachtende Erfahrungen gesammelt hat, trägt erfahrungsgemäß tiefere und komplexere Verwundungen in sich. Kriegstraumatisierten Menschen sollte darum über einen langen Zeitraum eine traumasensible Begleitung zur Verfügung stehen. Denn genau das hatten viele Aufnahmeländer in 2016 schon nicht bedacht: dass es um weitaus mehr geht als um Zuflucht und Integration.
Zerstörter Raum im Inneren
Menschen mit Komplextraumatisierungen sind oftmals in einem besonderen Maße existenziell erschüttert. Ihr Inneres ist geschädigt, gestört, zuweilen vielleicht sogar zerbrochen. Das Gefühl, sich selbst schützen zu können, wurde gestört oder gar vernichtet. Tragen wir nicht alle einen intimen Raum in unserem Inneren, den es hin und wieder durch ein Stopp oder ein Nein gegenüber der Umwelt zu wahren gilt, weil wir spüren, dass das Geschehen gerade unsere Werte verrät?
Es schadet uns oder fühlt sich einfach nicht gesund und richtig für uns an. Spüren wir das und bringen es zum Ausdruck, wäre es eine gesunde und heilsame Erfahrung, dass dies gehört oder wahrgenommen wird. Wenn dies jedoch systematisch und über einen längeren Zeitraum nicht wahrgenommen und respektiert wird, können jene Schutzgrenzen ihre Bedeutung verlieren und werden als nicht mehr existent erlebt.
Auch der Raum der Beziehungsgestaltung kann durch die systematische Erfahrung von Gewalt stark geprägt werden. Menschen, die Komplextraumatisierungen erleben, fühlen sich bereits während des Gewaltaktes vom Leben im Stich gelassen. Niemand ist da und hilft. Anschließend
fühlen sich sich ebenfalls einsam und alleingelassen mit ihren Schmerzen. Auch jetzt ist niemand da und hilft – niemand, der tröstet. Alleingelassen und einsam währenddessen – Einsamkeit und Alleinsein danach. Dieses Erleben prägt ihre Erwartungen an ihre Mitmenschen. So kann das Trauma zu einer grundlegenden Beziehungserfahrung werden und einem alles überlagernden schmerzlichen Gefühl, vom Leben zu Einsamkeit und Isolation verdammt zu sein.
Von Entwicklungs- als auch von Komplextraumatisierungen wissen wir, dass sich die schmerzlichen Ereignisse wiederholen oder aufeinanderfolgen. Es gibt also keine oder kaum Zeiten, in denen Erholung und Kräftigung möglich ist, ein Aufbau von Ressourcen ist schwierig. Und so wird das Leben zu einem permanenten Kriegszustand, in dem jederzeit eine existentielle Bedrohung möglich ist.
Wir sitzen alle im selben Boot
Ich begreife das Leben als ein miteinander verbundenes, stetig interagierendes Netzwerk, in dem jede Ursache etwas bewirkt und somit oftmals weitreichende Konsequenzen für sehr viele am System beteiligten Elemente haben kann. Krieg hat nicht nur komplexe Traumatisierungen für viele Menschen zur Folge. Auch ganze Pflanzen- und Tierwelten versterben in den Kriegsgebieten. Er hinterlässt enorme Klimaschäden. Preise für Rohstoffe und andere Ressourcen, von denen wiederum weltweit viele Menschen abhängig sind, schnellen in eine extreme Höhe. Er raubt den Kindern dieser Erde wertvolle Lebenszeit und Hoffnung auf eine vertrauenswürdige Zukunft. Und er verschluckt Unmengen an Geld. In meinen Augen ist nahezu nichts so sinnlos und gleichzeitig so komplex schädigend wie ein Krieg.
Solange Machtstreben, Gier, Hass und Unwissenheit noch immer treibende Kräfte in uns Menschen sind, oftmals in jenen, die ganze Länder und Nationen führen und regieren, werden wir aus dieser kollektiven Spirale des Leids nicht aussteigen können. Dann müssen alle Menschen, die gerade bei Kräften sind, ihren Mitmenschen aus den Krisengebieten selbstlos dienen. Ihnen helfen, nach Kriegsende das Land wieder aufzubauen. Den Erdboden aufbereiten, um einen Lebensraum für alle zu schaffen, die darin wachsen und gedeihen wollen. Denn wir sitzen alle im selben Boot.
Einige Jahre lang habe ich ein kleines buddhistisches Zentrum in Mitte besucht, was meiner Tätigkeit als traumasensible Therapeutin* und Pädagogin* etwas Kraft und Hoffnung geschenkt hat. Dort habe ich unter anderem Folgendes mit auf den Weg bekommen, das mir den Schmerz des Aushaltens von solche tragischen Situationen nicht nimmt, aber mir hilft, die Welt für einen Augenblick etwas anders wahrzunehmen: Solange sich fühlende Wesen im Samsara (das Leben auf der Erde, das Rad der Wiedergeburten) befinden, gibt es keinen Weg ins Nirwana (Paradies). Was soviel heißt wie: „Alle fühlenden Wesen bleiben bis zum Erlangen des Nirvana im Samsara gefangen. Das Erleben des Leidens, wie in der ersten der vier edlen Wahrheiten des Buddhismus beschrieben, ist die Erfahrung von Samsara.“ Das klingt zwar sehr vergeistigt, und hat etwas zugegebenermaßen abstraktes, doch schenkt es mir Momente innerer Ruhe und Akzeptanz.
Denn ganz offensichtlich befinden wir uns noch immer auf einem Weg des massiven Leidens. Mir scheint, als wären die meisten von uns noch nicht einmal „fühlenden Wesen“. Als müssten sich die fühlenden Wesen in unserer Gesellschaft und in der Politik erst noch heranbilden. Offensichtlich haben wir als globale Gesellschaft noch nicht sehr viel aus den Kriegsgeschichten unserer Vorfahren gelernt.
Vielleicht fangen wir erst einmal damit an, das Fühlen, das Mitfühlen und das Einfühlen als grundlegende Fächer für alle werdenden Eltern, in Kitas, Schulen, in Ausbildungen, in Studiengängen und allen anderen Lebensbereichen einzuführen – eventuell sogar als mehrjährige, grundständige Ausbildung für alle, die in die Politik gehen möchten.
Wer sich selbst in seinen unzähligen Facetten fühlen kann, dem ist oftmals auch eine Einfühlung in sein Gegenüber möglich. Vielleicht sollten einmal nicht nur die sozial Engagierten, die Ehrenamtlichen und freiwilligen Helfer*innen, die vielen pädagogischen Fachkräfte in den Unterkünften arbeiten, sondern alle Politiker*innen, die sich in jedweder Form für einen Krieg aussprechen. Und sich den vielen persönlichen tragischen Geschichten der Geflüchteten zuwenden. Ihnen zuhören. Den Schmerz und das Leid darin fühlen. Den zerrütteten Kindern die Hand reichen. Sich in der Seele von dem Grauen des Krieges und der Flucht wirklich berühren lassen.
Vielleicht werden dann politische Entscheidungen anders getroffen. Vielleicht schreiben wir dann als globale Gesellschaft eines Tages eine neue, etwas kooperativere Geschichte.
Komplextraumatisierung:
Man unterscheidet zwischen Komplextraumatisierung und der posttraumatischen Belastungsstörung als Folge von einem Monotrauma. Der Begriff Komplextraumata wurde von der amerikanischen Psychiaterin Judith Herman eingeführt. In der ICD 11*, die 2022 in Kraft tritt und nach einer Übergangszeit bis Ende 2022 die ICD 10 ersetzt, wird die komplexe posttraumatische Belastungsstörung erstmalig formuliert und aufgeführt. Sie wird als Folge traumatischer Ereignisse plus zusätzlich einer „langandauernden/wiederholten traumatischen Situation, aus der Flucht nicht möglich ist!, definiert.
Als Symptome werden zusätzlich zu den in der PTBS aufgeführten Traumafolgen weitere Störungen aufgeführt. Diese Störungen sind zu finden:
• im Affektiven (Neigung zu Gewaltausbrüchen, sehr starke emotionale Reaktionen, Selbstverletzung, Sucht als Bewältigung, Vermeidung von Sexualität vs zwanghaftes Ausleben …)
• in der Selbstwahrnehmung (Selbsteinschätzung schwach, wertlos, zerbrochen, hilflos, isoliert von Mitmenschen zu sein, begleitet von Scham- und Schuldgefühlen)
• in der Beziehungsgestaltung (Schwierigkeiten, Beziehungen aufrecht zu erhalten und sich nahe zu fühlen, zu vertrauen, Grenzen zu ziehen, Beziehungskonflikte zu bewältigen; Neigung, Missbrauchserfahrungen zu wiederholen oder selbst zum*r Täter*in zu werden)
• im Somatischen (chronische Schmerzzustände, Beschwerden des Verdauungssystems, Erschöpfung, Schwindel sowie Beschwerden im Bereich des Herzens, der Atmung sowie des Harn- oder Genitaltraktes ohne organische Erklärung)
• in den Lebenseinstellungen (Werte, Lebenseinstellungen oder religiöse/spirituelle Überzeugungen, die zu einem früheren Zeitpunkt im Leben Halt gaben, können ihre Bedeutung oder Sinnhaftigkeit verlieren. Stattdessen entwickeln sich eine starke Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Resignation).
Krieg, Verfolgung, Folter und Vergewaltigung sind extrem traumatische Erlebnisse, die tiefe Spuren hinterlassen. Mehr als drei Viertel aller Geflüchteten aus den Herkunftsländern Syrien, Irak und Afghanistan, die nach Deutschland kamen, hatten, laut AOK-Studie, unterschiedliche Formen von Gewalt erlebt und waren dadurch oft mehrfach traumatisiert (Komplextraumatisierung).
* Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und Gesundheitsprobleme