Würde

Würde – die Wiederentdeckung eines Gefühls

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Auf der Suche nach dem Gefühl von Würde

Als ich beschloss, einen Artikel über ein solch großes und komplexes Thema wie Würde zu schreiben, war ich inspiriert von der Idee, meine Umgebung in diesen Prozess zu involvieren. Ich empfand es dabei als wertvoller, die zutiefst persönlichen Erfahrungen meiner Mitmenschen und ihre Inspirationen weit über einen philosophischen oder juristischen Diskurs über die Würde zu stellen. Ich wollte erforschen, wodurch die Menschen um mich herum ein Gefühl von Würde erlangen. Wie sehr sie selbst darin verankert sind, ob und wie sie Würde empfinden. Und ich wollte herausfinden, wann und wie sie in ihrer Würde angegriffen oder unterdrückt wurden – und wie auch das sich für sie anfühlt. Des Weiteren war ich inspiriert von dem Zeitgeschehen „Corona-Krise“ und wollte Erfahrungswerte von meinen Mitmenschen vor der Fragestellung erforschen, ob ihre Würde in diesen Zeiten angegriffen wurde – und wenn ja, wodurch. Die Beispiele sind persönliche Erfahrungsberichte und stellen nur einen kleinen Einblick in unser gesellschaftliches Erleben von Würde oder Entwürdigung dar.

Olga, 38 J.: Würde ist für mich das Bewusstsein über meinen eigenen Wert. Aus diesem Wert heraus erwächst für mich eine tiefe Überzeugung zur vollen Selbstbestimmung. Gebrochen oder verletzt werden kann die Würde immer dann, wenn einem Menschen dieser Wert aberkannt wird durch den Versuch physischer, psychischer oder institutioneller Gewalt. Also immer dann, wenn ein Mensch daran gehindert wird, sein volles Potenzial zu entfalten.

Lilo, 14 J: Würde ist für mich, wenn ein anderer Mensch mich so akzeptiert, wie ich bin. Das ist ein gutes Gefühl. Wenn ich anders sein soll, als ich bin, wenn jemand eine Vorstellung von mir hat, wie ich sein soll, damit die Person mich leichter akzeptieren kann, dann fühle ich mich nicht wohl. Das fühlt sich sogar scheiße an. Ich glaube aber, dass wir Menschen uns verändern können. Wenn mich jemand wirklich liebt und etwas an mir kritisiert, das ihn, andere oder auch mich verletzt, dann finde ich okay, wenn das jemand sagt. Dann kann man sich verändern. Das hat dann aber die Liebe bewirkt.

Marisa, 36 J: Würde ist etwas, das mir niemand nehmen kann, wenn ich es wirklich in mir spüre. Würdelos hingegen ist für mich, wenn ein Mensch sich selbst erniedrigt. Wenn er sich anderen gegenüber beispielsweise anbiedert, um Liebe bettelt, obwohl die Liebe und Zuneigung im anderen erloschen ist, und sich doch weiter unterwirft und dabei weit über die eigenen Grenzen geht. Und ich finde „würdevoll sterben“ sehr wichtig. Dabei spielt der letzte Wille eines Menschen für mich eine besondere Rolle, und dass diesem Wunsch stattgegeben wird. Auch das hat für mich mit Würde zu tun.

Magda, 14 J: Würde ist für mich etwas, das niemandem genommen werden kann. Nur ein blödes Verhalten kann verletzen. Ich glaube, jeder Mensch auf dieser Welt hat dieselben Rechte und dieselbe Würde, und wir alle müssen gleichermaßen darauf achten, unsere Würde und die der anderen nicht mit Füßen zu treten.

Mac, 48 J.: Würde ist für mich ein Gefühl für mich selbst, eine spürbare Beziehung zu mir selbst zu haben. Vielleicht sogar ein Gefühl von Urvertrauen. Wenn das verletzt ist und ich das nicht mehr spüren kann, fühle ich mich wie eine organische Hülle. Ohne Inhalt.

Tanja, 49 J.: Würde ist für mich ein Gefühl, mich selbst als vollständiges Wesen zu akzeptieren, in Ordnung zu sein, wie ich bin. Mich mit meinem Leben verbunden zu fühlen. An sich sollte das ein natürlicher Zustand sein. Ich kann das auch nur so beschreiben, weil ich auch das Gegenteil kenne: Eine verletzte Würde fühlt sich inkohärent an, alles ist in Aufruhr, ich fühle mich reduziert, nicht gesehen, beschnitten und unvollständig. Dann fühle ich mich handlungsunfähig und machtlos. Schwach. Damit einher geht dann ein dumpfes Schmerzgefühl in mir. In meinem Brustkorb, in Höhe meines Herzens. Das ist extrem unangenehm.

Jörg, 59 J.: Jeder Mensch hat eine ganz natürliche Würde, einfach weil er existiert. Oftmals spüren wir diesen Kontakt gar nicht und die Menschen um uns herum auch nicht, weshalb es dann auch so schwierig ist, dass wir uns diese Würde im gegenseitigen Kontakt bestätigen können. Würde ist etwas, das wir nur fühlen können. Sind wir damit wirklich verbunden, kann uns auch niemand diese Würde mehr nehmen.

Johanna, 42 J: Würde bedeutet für mich Achtung vor mir selbst. Die entsteht dadurch, dass ich mir meiner selbst bewusst bin, auch der eigenen Unvollkommenheit. Und dass ich mich dennoch achte und um meinen eigenen Wert weiß, auch wenn ich eben nicht perfekt bin. Ich glaube, Würde wurzelt und ruht in sich selbst und setzt nicht herab. Weder mich selbst noch einen anderen. Würde ist für mich nur spürbar, wenn ich auch meine Umgebung achte, meine Mitlebewesen, den Planeten, das Universum und mich selbst als wertvollen Teil all dessen sehe.

A. 34 J.: Würde ist ein Teil eines jeden Lebewesens, was belebt, also lebendig ist. Die Würde ist somit Teil des Lebendigen. Jedes individuelle Sein hat eine individuelle Würde, die sich auf das individuelle Selbst bezieht. Jede Form von Demütigung und Diskriminierung führt zu einer Herabsetzung und einem Niedermachen des Diskriminierten und somit zu einer Verletzung der Würde. Ja, die Würde von Lebewesen ist verletzbar durch einzelne Menschen, durch ganze Menschengruppen und auch durch menschengemachte Systeme.

Woran erkenne ich, ob ich würdevoll bin?

Ob wir jemals zu Lebzeiten einen Zustand völliger Übereinstimmung mit der eigenen Würde erreichen, bleibt offen. Denn dann müssten wir zugleich in einem Zustand tiefster innerer Ruhe und Ordnung in Geist, Körper und Gefühl verweilen. In spirituellen Kreisen würde man vielleicht Seinszustand dazu sagen. Vielleicht ist dieser Zustand tiefster Vollkommenheit auch erst mit unserem letzten Ausatem erreicht, wenn sich unsere Persönlichkeit, unsere körperliche Form und alles, was uns hier ausgemacht hat, vollständig auflösen. Bis dahin jedoch können wir uns als Lernende und Übende auf einen Weg der Würde begeben.

Einem kompassähnlichen Leitstern im Inneren folgen, der an einem wertschätzenden und respektvolleren Miteinander aufrichtig interessiert ist. Vielleicht ist ein Empfinden unserer eigenen Würde auch erst dann möglich, wenn wir liebe- und respektvoll mit uns selbst umgehen. Im Umgang mit uns selbst einem wertschätzenden Pfad folgen, auf dem wir uns selbst über innere Gefühlsbotschaften daran erinnern, genau hinzuschauen, ob wir gerade würdevoll oder entwürdigend unterwegs sind. Wer sich für die Würde seiner Mitmenschen und aller anderen Lebewesen (dazu zähle ich auch Tiere, Pflanzen und alle anderen lebenden Organismen auf dieser Erde) aufrichtig interessiert, wird um einen Blick auf sich selbst nicht herumkommen. Denn die Würde und den Wert eines Gegenübers wahrzunehmen und angemessen und respektvoll damit umzugehen, erfordert einen Zugang zum eigenen Selbstwert. Eine sichere und stabile Beziehung zu sich selbst. Wer in dieser inneren Kraft wurzelt, ist weniger angreifbar, weniger verführbar und kaum mehr verletzlich.

Solch ein Mensch ist auch in der Lage, entwürdigenden Gruppenidealen, ausbeutenden Systemen und anderen Strömungen ganz selbstverständlich aus dem Weg zu gehen, und vertraut sich stattdessen dem eigenen Inneren immer mehr an. Auf dem Weg, die einst verloren gegangene Würde wieder zu entdecken, kommen wir vermutlich um schmerzliche erkenntnisreiche Momente nicht herum. So manches Mal behandeln wir uns selbst entwürdigend. Auch unsere Mitwelt kann uns jederzeit bis in Mark und Knochen erschüttern. Oder wir machen unsere Mitmenschen zum Objekt unserer Bewertungen und greifen sie somit in ihrer Würde an. Das gehört zum Menschsein dazu. Doch es ist immer wieder auch damit eine lohnenswerte Reise zu leben – und glücklicherweise können wir immer und immer wieder ein Leben lang lernen und üben.

Fühlen als Weg zur Würde

Einen wichtigen Grundstein für ein würdevolles zwischenmenschliches Miteinander bildet die Beziehung zum eigenen Inneren. Zu uns selbst. Auf der Basis eines gesunden und wachen Zugangs zu den eigenen Gefühlen kann ich auch die Gefühle eines anderen wahrnehmen. Gefühle können dabei als wichtige Botschafter dienen, den Zugang zum eigenen Selbst aufrechtzuerhalten oder auch wieder herzustellen. Dabei spielen die vermeintlich unangenehmen Gefühle eine genauso wichtige Rolle wie die angenehmen, positiv assoziierten Gefühle. Emotionale Botschaften können uns darin unterstützen, den Kontakt zu uns selbst zu bewahren, während ein Unterdrücken von emotionalen Botschaften erfahrungsgemäß dazu führt, dass wir den Kontakt zu uns selbst verlieren. Darum können wir Gefühlszustände auch als wichtige und gesunde Botschaften an uns selbst begreifen: Führt unser aktuelles Denken, Fühlen und Handeln in einen erstrebenswerten Zustand? Oder entfernen wir uns darüber gerade von uns selbst? Wie sehr sind unbewusste Vorgänge an diesen Dynamiken „zu mir hin“ oder „von mir weg“ beteiligt? Und wie kann ich diesen Dynamiken auf den Grund gehen – am besten auf eine Weise, die mich in einen Zustand innerer Ordnung und Ruhe führt?

Manchmal erhalten wir dabei sogar für einen Augenblick lang das Geschenk des einfachen Seins. Eine Art innere Zufriedenheit, dass alles in Ordnung ist, wie es ist. Solange ich mit mir und meinen Gefühlen in Beziehung bin, ist es mir möglich, auch mit meiner Umwelt auf eine gefühlvolle Weise in Beziehung zu sein. Das bedeutet nicht, dass ich alles hinnehmen muss. Es heißt zunächst nur, dass ich in der Lage bin, vorbehaltlos zu fühlen, was ist. Und mein innerer Leitstern – dieser zarte Klang der eigenen Würde – kann mir helfen zu spüren, ob der Weg des Miteinanders gerade ein würdevoller ist – oder eben nicht. Und ich frage mich ehrlich: Wo genau stehen wir zur Zeit? Als einzelnes Wesen, und auch als Menschheitsfamilie?

Entwürdigende Systeme

„Im heutigen Arbeitsumfeld ist es nicht so leicht, das eigene, höchste Bemühen auf die Umsetzung von Werten wie Wertschätzung, Würde, Selbstachtung, Respekt und Solidarität zu konzentrieren – in einer Welt, in der diese Werte kaum oder keine Rolle spielen. Diese Werte in der heutigen Arbeitswelt trotzdem als das wichtigste Bemühen zu betrachten und diese auch umzusetzen, kann eine einzelne Person kaum durchhalten. Das geht nur, wenn sich ein ganzes Team auf diese Grundhaltung verständigt und es gemeinsam versucht. Wenn das gelingt, ist das Ergebnis sehr bemerkenswert: Es geht plötzlich allen besser. Die Teammitglieder empfinden dieses gemeinsame Bemühen als sehr erfüllend, sinnstiftend und beglückend. Menschen sind einfach keine optimierbaren Maschinen. Und sie sind auch nicht für den Einzelkampf geschaffen.“ (Gerald Hüther in einem Interview vom 9.6.2020, PflegeOnline)

In leistungsorientierten Gesellschaften wird die Fähigkeit zum Einzelkampf gefördert, und das bereits sehr früh – in vielen Elternhäusern, im Kindergarten, in der Schule. Im Zentrum steht der Wettbewerb, das Fördern einzelner Gewinner*innen auf Kosten von Verliererenden, die explizite Förderung von Privilegierten bei gleichzeitig erschwertem Zugang zu Fördermöglichkeiten von benachteiligten und betroffenen Menschen. Durchsetzungskraft, Leistungs- und Zielstreben, Macht, Erfolg, Profitsteigerung und Ruhm stellen grundlegende Werte auf Kosten von Werten wie Mitgefühl, Kooperation, Füreinander, Gemeinschaftssinn, organischem Wachstum oder Geborgenheit dar. Herangebildet werden dabei vereinzelte Alphatiere, Leaders, Einzelkämpfer*innen. Eines ihrer Bestreben ist es, ganze Menschengruppen zu leiten und zu führen – jedoch nicht immer auf Basis einer tiefen Verbundenheit mit ihrer eigenen Gefühlswelt, und auch nicht mit der Frage im Herzen, ob gerade ein im menschlichen Sinne werbebasierter Kompass in ihrem Inneren diesen Prozess antreibt und dabei das Beste aus allen Lebewesen zutage fördern möchte. Im schlechtesten Falle wird die Gruppe, die dem Einzelnen folgen soll, „gebraucht“, damit die höchstpersönlichen Ziele eines Einzelnen erreicht und seine persönlichen Vorhaben umgesetzt werden können.

Alles unter Höchsteinsatz und vielleicht damit einhergehend einem langsam stetigen Ausbrennen der individuellen Ressourcen. Und vermutlich einhergehend mit dem Verlust von Würde – nicht nur der aller Hörigen, sondern auch der „führenden Person“, denn die sogenannten Betroffenen und Täter*innen sind nur unterschiedliche Seiten der gleichen Anpassungsstruktur. Ausdruck davon sind beispielsweise das grenzenlose Verlangen unserer Gesellschaft nach stetigem Wirtschaftswachstum, Gewinnmaximierung, dem Schaffen von Abhängigkeiten, der Sehnsucht nach Bewunderung der eigenen Person durch andere und ein persönliches Machtstreben. Am Ende des Tages stellt sich das vielleicht alles nur als eine verzweifelte Suche nach dem verlorenen gegangenen Wert im eigenen Inneren dar, dessen Verlust sich über Äußerlichkeiten und Statussymbolik einigermaßen zu regulieren versucht, um die schmerzliche Verwundung darüber nicht ins Bewusstsein kommen zu lassen.

In Einsamkeit gestorben – ein Ringen um die Menschenwürde in der Corona-Krise

Seit mehr als 10 Jahren ist Gerda V. in der Hospizarbeit tätig, zunächst als direkte Sterbebegleiterin, dann als Koordinatorin für Hospize und nur noch stellenweise in der persönlichen Begleitung. Wann immer ein Mensch im Sterben lag, kam sie stets an sein Bett, legte ihre Hand auf seine, atmete mit ihm und erfüllte ihm – sofern möglich – seinen letzten Willen. Sie saß dort, manches Mal nur für eine Weile, eine Nacht etwa, bis dieser Mensch verstarb. Er war also nicht allein in seinem letzten Augenblick. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass es eines Tages staatlich verordnete Situationen geben könne, in denen sie diese Arbeit nicht vollziehen darf. Nicht jemandes Gefühl der Einsamkeit auf seinem letzten Weg lindern. Nicht dessen Angehörigen das Gefühl vermitteln, sie haben jetzt genug getan, jetzt sei die Zeit der Stille gekommen – ein „Sich-Zurücklehnen, Schlafen“, denn jemand sei mit frischen Kräften bei dem geliebten Familienmitglied und hielte dessen Hand während seiner vielleicht letzten Atemzüge.

Nicht nur die Angehörigen hatten über einen langen Zeitraum keinen Zutritt zum Hospiz und ihrem im Sterben liegenden Familienmitglied, auch die ehrenamtlichen Sterbebegleiter*innen durften die in der Sterbeeinsamkeit liegenden Menschen zunächst nicht mehr besuchen. Doch in welchen Zeiten ist die tätige Nächstenliebe von tiefstem Wert? Sehr wahrscheinlich in Notzeiten! So auch in diesen. Gerda gehört zu den Menschen, die unter all diesen Maßnahmen litt und während der Pandemie nur an eines dachte: an all die Sterbenden und ihre Angehörigen. Und sie hat nur einen Vorwurf an die Hospizbewegung in Deutschland: den des Verrats der eigenen Ideale. Gerda war in den 60er Jahren angetreten, um sich für das zu engagieren, was die Hospizbewegung seitdem stets ausmachte: der Not einsamer Menschen die eigene Mitmenschlichkeit entgegenzusetzen, Nachbarschaftspflege und Sterbebegleitung zu etablieren mit dem Ziel, niemanden in der letzten Krise seines Lebens alleine zu lassen.

Doch diese Bewegung verstummte, es wurde still seit 2020. Stattdessen wanden sich Wohlfahrtsund Dachverbände der Hospizarbeit in hilfloser Unwissenheit und richteten ihre Empfehlungen an den politischen Vorgaben aus. Kein Aufschrei und kein „und doch“. Stattdessen Sterbebegleitung per Zoom. Und wann immer gebetsmühlenartig Begriffe wie „Solidarität“ und „Würde“ gerufen wurden – dort, am Menschen, mitten im Hospiz kam deren innerer Kern nicht mehr an. Kraftlose Worthülsen verhallten im Nichts. Die Pflegekräfte schufteten mehr denn je, alleine, in unterbesetzten Schichten. Die Begleitenden waren nicht mehr dort, um Zeit zu schenken und den Menschen einen würdevollen Übergang zu ermöglichen.

„Es war über einen sehr langen Zeitraum respektlos und unwürdig, und ich möchte das nie wieder erleben.“ G.V., 57 Jahre.

Etwas Persönliches zur Würde des Menschen

Als hätten die letzten Krisenjahre nicht ausreichend Spuren in uns Menschen hinterlassen, trägt sich eine persönliche Erfahrung auch für mich in das neue Jahr mit hinein. Über drei Monaten lang lag mein Vater nach einem Schlaganfall und zwei Operationen in einer Intensivstation, im Wechsel mit einem Aufenthalt in einer Rehaklinik. Nachdem wir ihn als Familie in den ersten zwei Wochen nach seiner ersten Operation hin und wieder besuchen durften, wurden diese Besuche für viele Wochen im Rahmen der Corona-Schutzmaßnahmen in der Rehaklinik vollständig untersagt. Obwohl Impfungen und durchgestandene Coviderkrankungen zu einer Art Immunität führten, durfte ihn in der Reha niemand sehen.

So manches Mal bot eine Pflegekraft mitfühlend an, meinem Vater den Telefonhörer ans Ohr zu halten, weil ihr bewusst war, dass gerade eine vertraute Nähe zu Angehörigen dem Genesungsprozess dienlich sein könne. Doch wer wollte in Zeiten wie diesen den ohnehin bereits chronisch überlasteten Pflegekräften zusätzlich noch persönliche Bedürfnisse in Form von regelmässigen Anrufen zumuten?

Nachdem mein Vater für die zweite Operation ins nahe liegende Krankenhaus verlegt wurde, kontaktierte ich intuitiv ein befreundetes Paar in Süddeutschland. Beide, ein Chirurg und seine Frau, eine Psychotherapeutin, widmen seit vielen Jahren ihr Leben der Ganzheitsmedizin und Systemischen Aufstellungen für Familien und Organisationen. Nach einem fachlich fundierten medizinischen Aufkärungsgespräch boten sie uns an, für uns als Familie in einer Systemischen Arbeit aus der Ferne zu wirken. Ganz praktisch boten sie uns zusätzlich an, dass wir uns jederzeit mit Sorgen, Gefühlen und Fragen an sei wenden konnten.

Die Essenz würdevoller Erfahrungen

Die systemische Aufstellungsarbeit fand zum Zeitpunkt der zweiten Operation statt. Die leitende Operateurin hatte uns telefonisch informiert, dass die Chancen schlecht stünden und wir nicht unbedingt mit dem Überleben meines Vaters rechnen sollten. Sein Körper funktioniere ohnehin nicht mehr so richtig und er stünde kurz vor einer Sepsis. Die Aufstellungsarbeit selbst arbeitete mit einer möglichen tiefen Verzweiflung in Inneren meines Vaters, die er im Rahmen seiner Isolationserfahrung machte. Das Gefühl des Isoliertseins verstärkte sich durch den Verlust gewohnter autonomer Kräfte, allem voran seiner Sprache. Er litt offensichtlich unter dem Gefühl, schwach, ausgeliefert und abhängig vom Umfeld zu sein – in dem er sich eher verloren als geborgen fühlte. Eine Sehnsucht nach seiner gewohnten Umgebung, machte sich in der Aufstellung breit.

Doch auch in uns als Familie wirkten ähnliche Gefühle. Ein weiteres Empfinden war, dass mein Vater die weiteren Schritte seiner Reise vielleicht gerne in Würde gehen wollte, in seiner gewohnten Umgebung und mit den ihm liebsten Menschen an seiner Seite. Auch andere Gefühle wurden in dieser Arbeit aufgedeckt und verarbeitet. Im Familiensystem wurden dadurch unterschiedliche Kräfte ausgelöst. Im Verlauf dieser systemtherapeutischen Arbeit verwandelten sich die beklemmenden, schmerzlichen Gefühl in uns zunehmend mehr in ein Gefühl von sanfter Hoffnung und Zuversicht. Vermutlich auch dadurch, weil von dem Paar, das diese Aufstellungsarbeit leitete, ein tiefes, aufrichtiges Mitgefühl und eine zutiefst berührende, wertschätzende und verständnisvolle Kommunikation ausging. Allein diese Erfahrung konnte alles zuvor entwürdigende Erleben im Herzen unseres Familiensystems ein Stück weit auflösen.

Was am Ende zählt

Wie durch ein Wunder – O -Ton der Operateurin – hatte mein Vater sowohl die Operation, die zeitgleiche Sepsis als auch die anschließende Stabilisierungsphase erst einmal gut überstanden. Die heilsame Aufstellungsarbeit hatte zudem in meiner Mutter Kräfte mobilisiert, die es ihr ermöglichten, regelmäßige Besuchszeiten im Krankenhaus zu erwirken, damit wir alle wieder in einen realen zwischenmenschlichen und beständigen Kontakt mit ihm eintreten konnten.

Ein Traum, in dem mein Vater verstarb, löste in mir aus, mir zeitnah eine Woche frei zu nehmen. Anfang März fuhr ich mit meiner Familie in meine alte Heimat, und besuchte meinen Vater täglich auf der Intensivstation. Ich las ihm vor, verbrachte Momente in Stille mit ihm, wir blickten uns oft sehr lange in die Augen und übten uns in unserer Verbundenheit und einem intensiven Kontakt jenseits von Sprache, denn diese hatte er derweil vollständig verloren. Es wurde allmählich klar, dass die Medizin an ihre Grenzen gekommen war und nur die Geräte ihn noch weiterhin am Leben hielten. So ging es für ihn nun um einen Platz im Hospiz oder einer Palliativstation, und für uns um die Einsicht, dass der große Schritt gekommen war. Doch weder im Hospiz, noch auf der Station standen freie Plätze zu Verfügung. Und so wurde er zunächst in ein freies Zimmer auf der gynäkologischen Station verlegt. Dort sollte er auf ein freies Zimmer in der Palliativstation warten.

Eher intuitiv habe ich den wohl letzten Abend und die letzte Nacht bei ihm und mit ihm verbracht. Ich verabschiedete mich um Mitternacht mit den Worten, dass ich alle angerufen und gebeten habe, bis zum nächsten Tag 10h anzureisen und dass wir ihn als ganze Familie am frühen Vormittag besuchen würden. Ich bat den Pfleger der Nachtschicht, meinen Vater regelmässig zu besuchen, falls es ihm möglich sei.

Um 9h am nächsten Morgen verabschiedete sich mein Vater von dieser Welt.

Die eigene innere Würde und die meiner Umgebung zu wahren, bleibt eine Herausforderung. Ein Weg. Doch erscheint es mir ein erstrebenswertes Anliegen zu sein, meinen eigenen würdevollen Beitrag in dieses kollektive Gefüge einzubringen. Mich dabei selbst zu achten, und gleichzeitig meine Mitgestalter*innen wertschätzend wahrzunehmen und diesen würdevoll zu begegnen.

Miteinander und aneinander zu lernen und innerhalb dieser so diversen Ausdrucksformen eine vertrauensvolle Nähe und ein würdevolles Miteinander entstehen zu lassen, kostet mich und vielleicht auch andere Menschen noch viele Lernstunden und Übungsrunden. Doch ich bin gewillt, in diesem kollektiven Gefüge so lange mitzuschwingen, bis wir ein würdevolles Miteinander etabliert haben. Denn da gibt es diesen Kompass in meinem Inneren, in meinem Herzen, der mich trägt und der mir zuflüstert, dass wir etwas Verbindendes im Miteinander finden können. Etwas, das uns beseelt und die scheinbar trennenden Grenzen im Miteinander schwinden lässt.

Lena Grabowski